Literaturland


Jakob Vetsch

Im Sonnenstaat

1923

Im Sonnenstaat braucht es keine Examen, keine Zeugnisse und keine Aufmunterungspreise, aber auch weder Zuchtrute noch irgendwelche Strafen im früheren Sinne. Die Schule bringt für das Kind nicht mehr lauter strenge Gebote und schwere Verbote mit sich, sondern lauter freudige Anreize. Durch Vermeidung alles Lehrhaften – ihre Erzieher heissen darum auch nicht ‹Lehrer›, welche Bezeichnung nur für die an der Hochschule und an der Handwerks- und Verwaltungsschule Unterrichtenden verwendet wird – lässt die Schule dem Kind das Gefühl, es betätige sich freiwillig und schaffe nur, was ihm Freude mache. Eine solche Erziehung muss nicht erzwungen werden, sondern trägt den Ansporn und die freudige Genugtuung in sich. Lob und Tadel, Ermahnung und vielleicht einmal eine Blossstellung sind die schärfsten Mittel, die angewendet werden. Bei den geringen Versuchungen, welche unter den sonnenstaatlichen Verhältnissen an das Kind herantreten, sind schwerere Verirrungen äusserst selten, und ihre sofortige Behandlung als Seelenkrankheit wirkt stärker und abschreckender als die härteste Strafe. Verstellung und Lüge haben bei der alles beherrschenden Wahrhaftigkeit und Aufrichtigkeit so kurze Beine, dass niemand weit damit springt und kaum einer Lust zu einem zweiten Versuch hat. Was die Jugend hört und lernt, stimmt mit dem Geiste überein, der sie in Haus und Schule und Gemeinde umgibt, und jeder Erwachsene wacht sorgsam darüber, dass keine Dissonanz diese Einheit trübe. Dies gilt auch für die beiden Lehrlings- und Jungfernjahre, während denen die Achtzehn- und Neunzehnjährigen in der Familie des Lehrmeisters oder der Lehrfrau aufgehoben sind wie eigene Kinder und mit väterlichem und mütterlichem Verantwortungsgefühl angeleitet und betreut werden.

Die gleiche und gemeinsame Erziehung der Geschlechter bis ans Ende der Mittelschule wird auch nicht durch Inanspruchnahme der Mädchen für sogenannte weibliche Handarbeiten, wie man sich früher ausdrückte, unterbrochen, da im Sonnenstaat bei der fabrikmässigen Herstellung aller Bekleidungsstücke nur ganz wenig von Hand gestrickt und genäht wird und dieses sowie der Gebrauch der Nähmaschine – eine solche befindet sich im Werkraum jedes Hauses – und das Kochen von den Mädchen erst in der Jungfernstellung gelernt wird. Heute hat auch kein Mädchen, keine Jungfrau und keine Frau mehr Freude daran, stundenlang mit eingepresster Brust und scharf hinsehend am gleichen Plätzchen zu sitzen und sich ‹die Zeit zu vertreiben› mit dem gefühls- und gedankenlosen mechanischen Sticken oder Häkeln, und da es keine armen ‹Näherinnen› oder Hausfrauen mehr gibt, die sich mit ‹Heimarbeit›, wie man zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zur Verschönerung der Sache in einem extra neu erfundenen Worte so wohltätig sagte, ihren nötigsten Lebensunterhalt verdienen müssen, und überdies niemand solche von andern gefertigte Sachen verwenden würde, weil es im Sonnenstaat nicht als ‹vornehm› gilt, sich mit der Arbeit anderer zu brüsten, so gibt es eben heute keine Handspitzen und keine Frivolités und kein ‹echtes Filet› mehr, und es sind diese typischen Zeugen vorsonnenstaatlicher Aussenkultur nur noch in Museen zu sehen und nach Geschichte, Herstellung und Beschaffenheit in Bibliotheken zu studieren. Dafür betätigen sich schon die Mittelschüler mit Freuden damit, Stoffe, auch als Verzierung an Kleidungsstücken, nach eigenen Ideen kunstsinnig zu bemalen.

Jährlich finden drei Kinderfeste statt, nämlich je für das letzte Jahr der Kinderschule, der Elementarschule und der Mittelschule, auf welche hin die Klassen mit ihrem Können wetteifern. Von den zweimal drei Wochen Ferien, die alle Schüler abwechselnd im Sommer und Winter respektive im Frühling und Herbst haben, bringen sie gewöhnlich die eine Hälfte mit einem Teil der Erzieher in den sogenannten Feriengebieten zu (jede Sonnengemeinde hat nämlich noch ein bestimmtes kleineres Gebiet irgendwo in den Bergen, am Meer oder an einem andern Ort, der eine Veränderung bedeutet, zugeteilt, das sie als Ferienaufenthalt für Kinder und Erwachsene während des ganzen Jahres instandhält, und diese Feriengebiete werden oft für ein Jahr zwischen den Gemeinden vertauscht, sei es als Ganzes oder nur mit Bezug auf eine bestimmte Anzahl Einwohner, womit ein Wechsel des Ferienortes ermöglicht wird). In den andern drei Ferienwochen können die Elementarschulklassen kleinere und grössere Schulreisen machen, und die Mittelschüler dürfen sie ganz in entfernteren Sonnengemeinden verbringen. […]

So ergänzt sich im Sonnenstaat alles in glücklichster und natürlichster Weise, um die goldene Jugend für jedes Kind zum vernunftgemässen Vorläufer der goldenen Liebeszeit und der Selbsterziehung zu gestalten, die dann zum Reifealter hinüberleitet. Alle Register und Töne des wundervollen Orgelwerkes sind nun vorgebildet und bereit zum harmonischen Zusammenspiel und Ausklang in einem höheren Menschentum. Und diese, wie wir am Beispiel Steinbrechs und Reginas gesehen haben, in Reinheit aufgeblühten jungen Menschen tragen in ihren Körpern den unverstümmelten Naturtrieb ursprünglichen Lebens mit sich. Im Grunde noch harmlose, selige, glückliche Kinder, sind es doch ausgeprägte Persönlichkeiten, die Welt und Himmel zu stürmen wagen und sich durch keinen Gott und kein Genie davon abschrecken lassen, selbst etwas zu sein und gleicher Höhe zuzustreben.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 494–495.

Erstpublikation: Jakob Vetsch: Die Sonnenstadt. Ein Roman aus der Zukunft für die Gegenwart. Mit einem Nachwort von Charles Linsmayer. Zürich: Ex Libris, 1982. S. 63–65.