Literaturland
Martin Walser
Ein sterbender Mann
Eine Kunstfigur des Romanciers Martin Walser – Briefeschreiber, Mailautor, Postskripsist – notiert auch Träume. Aus einer Sequenz von sechs Aufschrieben ist hier der fünfte zitiert.
Der fünfte Traum in der Nacht vom siebenundzwanzigsten zum achtundzwanzigsten September:
Er rennt zu den Ämtern, wird andauernd belehrt. Von Beamten. Es sind Schweizer Beamte. Er hat sich um die Schweizer Staatsbürgerschaft beworben. Er wird nach Gründen gefragt. Die muss er erfinden. Deutlich wird, dass er von Beamtinnen viel besser verstanden wird als von Beamten. Endlich ist es so weit. Er wird geprüft. Er besteht alle Prüfungen. Er ist schon guter Dinge. Da wird ihm mitgeteilt, die letzte und ausschlaggebende Prüfung sei die Jodel-Prüfung. Ohne Jodeln keine Schweizer Staatsbürgerschaft. Jodeln sei die helvetische Muttersprache. Abgenommen wird die Prüfung in Appenzell. Auf dem Marktplatz. Offenbar hat sich die halbe Stadt eingefunden, um ihn zu hören. Er wird von zwei Herren im Frack in die Mitte des Platzes geführt, dort auf ein Podest. Er ist damit auf der Höhe des Gremiums, das die Prüfung abnimmt. Vier Herren, auch im Frack und mit Zylindern. Zwischen ihnen die Frau und der Schweizer. Die Leute rundum applaudieren. Aus Fenstern und von Balkonen klatschen sie. Einer der Zylinderherren befahl ziemlich schroff, das Publikum habe alle Zeichen von Zustimmung oder Ablehnung zu unterlassen, da es sich um eine ausschlaggebende Prüfung handle und nicht um eine Show. Der Prüfling habe ein Recht auf Stille. Sofort verstummen alle. Es herrscht jetzt eine gewaltige Stille. Der Herr sagt: Merci. Ein Zylinderherr ruft: Die Prüfung läuft! Sofort kommt ein gehbehinderter alter Mann zum Podium und klettert auf das Podium. Er hat eine Ziehharmonika dabei, die man in der Schweiz Handörgeli nennt. Er beginnt zu spielen. Wie dazu gejodelt werden kann, ist nicht gleich klar. Dann aber doch. Er selbst setzt ein. Hola-di-öh-hola-di-öh-hola-hola-hola-di-öh! Diesen letzten Ton zieht er in die Höhe und hüpft von ihm aus in die Jodelbewegungen und zieht den Ton dann wieder hoch und lang hinauf und hinaus. Und noch höher! Da versagt seine Stimme. Er hat zu hoch hinauf gezielt. Also etwas tiefer. Aber die Stimme krächzt nur noch. Ein hässliches Pressen und Stöhnen und Krächzen. Und er sieht, wie die Herren auf dem Podium sich die Ohren zuhalten. Und er sieht, dass der Schweizer der Frau die Ohren zuhält. Und sie hält ihm die Ohren zu. Das artet aus in eine Zärtlichkeit, die sie einander erweisen, nur um einander vor seinem Jodeln zu schützen. Die Leute lassen sich jetzt nicht mehr halten. Ein Pfeifkonzert bricht los. Der Handörgelimann nimmt ihn an der Hand und führt ihn hinaus. Dass er dabei furchtbar hinkt, passt zu diesem Abgang. Dann kommen zwei Polizisten und verbinden ihm die Augen. Er ist in einer Zelle. Die Binde wird ihm abgenommen. Aus dem Lautsprecher sagt eine Stimme, dass er wegen eines groben Verstosses gegen geltende Gesetze vor Gericht gestellt werde. Er habe die helvetische Muttersprache geschändet. Er hat aber, bevor ihm die Augen verbunden wurden, gesehen, dass der Schweizer, der immer die Frau begleitet, Reto heisst. Und, komisch genug, das zu wissen tut ihm gut. Mehr wollte er doch gar nicht. Das ganze Staatsbürgertheater hat er doch nur veranstaltet, um zu erfahren, wie dieser Schweizer heisst. Reto. Auf einem Schild, das dem um den Hals hing, stand der Name. Er verlässt die Zelle. Kein Mensch hindert ihn daran. Draussen auf einem Parkplatz sieht er das Paar. Und jetzt jodelt er. Jetzt sticht seine Stimme in die Höhe, überschlägt sich, springt in die wunderbarsten Dehnungen und tollt sich wieder in schnellen Rhythmen zum nächsten Sprung in die Höhe. Und die zwei hören ihm zu. Er nähert sich, jodelnd nähert er sich. Und singt noch den Text dazu. Mein Lieb ist eine Älplerin, gebürtig aus Tirol. Sie trägt, wenn ich nicht irrig bin, ein rotes Kamisol. Und jodelt darüber hinaus. In jede Höhe. Seine Stimme trägt ihn hinauf und hinauf. Endlich interessiert sich die Frau für ihn. Aber dann, als er fast bei ihr ist, als er mit beiden Händen nach ihr greift, verschmilzt sie mit Reto, ist sie Reto.
Er erwachte. Und hätte viel dafür gegeben, wenn er hätte zurückfinden können in seinen Traum. Aber der Traum war weg. Unerreichbar weit weg.
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 124–125.
Erstpublikation: Martin Walser: Ein sterbender Mann. Roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag, 2016. S. 156–158.