Literaturland


Martin Walser

Tassilo: Säntis

1978

Privatdetektiv Tassilo S. Grübel besucht den berühmten Schriftsteller Fritz Färber in seinem Haus am Bodensee und erfährt die Geschichte von dessen verschwundener Geliebten. Er soll der Frau auf die Spur kommen – dem bald fernen, bald nahen Säntis kommt in diesem Spiel um Projektionen eine heimliche Hauptrolle zu. Walsers Tassilo-Hörspiele wurden mit Bruno Ganz in der Hauptrolle in einer sechsteiligen Fernsehserie verfilmt und 1991 zum ersten Mal ausgestrahlt.

Tassilo läutet. Hundegebell von mehreren Hunden. Nuntia schimpft die Hunde. Sie ist Italienerin, die besser Dialekt als Hochdeutsch kann.
NUNTIA: Sind’r etz schdill glei blöde Siache blöde. Etz schdill, i saga, vaschdehn, ihr Hundsviech, ihr. Sie scho de Herr Grübel, gell?
TASSILO: Ja.
NUNTIA: Bittschön. No kui Angscht. Duond nix Ihne, wenn i dabei, vaschtond Se, gell. Brüllt in die Ferne: Mehmet, Rindviech, blöds, hosch wieder Zwinger uufdoa.
MEHMET: von fern: Nuntia sell Rindviech blöds!
FÄRBER: Kommen Sie, Herr Grübel! Wenn Nuntia Ihnen freies Geleit anbietet, haben Sie nichts zu fürchten. Bitte … vielleicht setzen wir uns besser hinein. Das Panorama bleibt Ihnen erhalten. Wenn Sie in diesem Haus See und Säntis nicht sehen wollen, müssen Sie sich schon auf den Bauch legen und das Gesicht auf den Boden pressen. Zeigen Sie auf die Flasche, aus der ich Ihnen etwas einschenken darf … Gin … Tonic … schön, da schliess ich mich an. Also passen Sie auf. Sie sitzen gut, ja?
TASSILO: Danke, doch.
FÄRBER: Ich habe noch nie mit einem Privatdetektiv zu tun gehabt. Ich finde es jämmerlich, dass ich jetzt mit einem zu tun haben muss. Dass es Sie gibt, weiss ich von Frau Mia von Mufflings. Sie wissen, die manchmal nach Langenargen kommt. Sie hat geschwärmt von Ihnen. Ich musste ihr versprechen, in meine Telefonnotizen unter P das Wort Privatdetektiv und Ihre Telefonnummer zu schreiben. Aber das hätte ich vielleicht längst vergessen, wenn sie mir das nicht in Manhattan gesagt hätte. Hier treffe ich sie so gut wie nie. Sie ist nie im Sommer hier, ich fast nur im Sommer. In ihrem Central Park West-Apartment, da nötigt sie mich, eine Friedrichshafener Telefonnummer aufzuschreiben! Sie ist nicht meine Verlegerin.
TASSILO: Ich weiss.
FÄRBER: So. Ich beginne mit dem Sommer vor sieben Jahren, als mein letztes Buch erschien.
TASSILO: Zikkurat.
FÄRBER: Ja, ja, ja. Seitdem ist ja nichts mehr erschienen. Sieben Jahre, Herr, Herr …
TASSILO: Grübel.
FÄRBER: Richtig. Mein Namengedächtnis war nie sehr gut. Das ist eines der wenigen Dinge, die bei mir nicht vom Älterwerden kommen. Sieben Jahre kein Buch, Herr … Herr …
TASSILO: Gr …
FÄRBER: Grübel, das ist eine lange Zeit für einen Schriftsteller in meinem Alter. Die Abstände von Buch zu Buch werden immer grösser. Ich sehe voraus, dass ich das nächste Buch irgendwann einmal nicht mehr erreichen werde. Keine Sorge, dass ich nur von meinem Alter sprechen werde. Ich weiss, wie lächerlich es ist, wenn ein Alter nur von seinem Alter spricht. Also vor sieben Jahren. Das war ein starker Sommer. Erinnern Sie sich? Der höchste Wasserstand seit hundert Jahren. Der See war randvoll. Aber er lief nicht über. Das ist das Freche an diesem See, das Attraktive geradezu. Prallvoll. Aber er läuft nicht über. So eine Wasserwand haben Sie da vor dem Haus. Aber sie steht. Bleibt stehen. Sie sind nicht von hier?
TASSILO: Nicht immer hier gewesen.
FÄRBER: Also … so ein Sommer war das. Dabei hatte es hier gar nicht soviel geregnet. Muss alles aus den Bergen gekommen sein. Nun traf also eine Fotografin ein. Aus München. Da sie aus der Gegend stammt, kam sie hier an in einer Art Erregung, die ich erst später begriff. Geschickt war sie vom Verlag. Die wollten neue Bilder. Anlässlich des neuen Buches. Ich wollte keine neuen Bilder. Das hatte ich denen gesagt. Was soll ich jedes Jahr mit neuen Bildern? Das Schlimmste ist einfach das Fotografiertwerden. Wenn ich diese schwarze Drohung auf mich gerichtet sehe, steh ich noch genauso dumm da wie vor dreissig Jahren. Nein, dümmer. Ängstlicher. Hilfloser. Das akkumuliert sich nämlich. Jedes Fotografiertwerden ist nicht nur ein bisschen schlimmer als das vorherige, sondern unendlich viel schlimmer. Also das Erschossenwerden ist sicher weniger schlimm, weil man da weiss, danach ist Schluss. Das Fotografiertwerden aber geht immer weiter. Die drücken ja fünfzigmal ab, hundertmal, wenn man sie einmal hat anfangen lassen. Offenbar kostet das Material überhaupt nichts mehr. Klick, klick … Sie wissen nicht mehr, ob Sie noch stehen oder schon davonrennen. Ihr Gesicht wird so fühllos wie das Zahnfleisch, wenn der Zahnarzt Ihnen an vier Stellen hineinspritzt, um einen Zahn zu ziehen. Ich will damit sagen, dass ich mich nicht danach dränge, fotografiert zu werden. Verstehen Sie das?
TASSILO: Ja, Herr Doktor, das verstehe ich.
FÄRBER: Ich danke Ihnen. Die kam also unangemeldet. Mit einem 2 CV. Und Gerät. Geht durch die Hunde durch wie die Juden durchs Rote Meer. Hebt die Arme ein klein wenig an, als habe sie um die noch am ehesten Angst. Sie ist zwar nicht gerade ein Fläumchen, aber meine Hovawartbestien könnten sie spielend erledigen. Moment, damals hatte ich ja erst einen. Attila. Freya und Barbara hatte ich noch nicht. Aber das Girl kommt an an der Haustür und sagt: Angst! Vor dem Seppel da, keine Spur! Wie heisst denn der? Attila. Attila, komm! Und setzt ihr Zeug ab und rennt hinaus und balgt sich mit dem wilden Attila, als wär das ein Lamm. Dann kommt sie mit ihrer ärmellosen Bluse wieder herein und sagt: So, Herr Doktor, wo machen es wir zwei miteinander?
GERTRUD: So, Herr Doktor, wo machen es wir zwei miteinander?
FÄRBER: Ich höre natürlich gleich, dass sie von hier ist. Sie schaut sich schon prüfend um. Ich sage: Ich denke nicht daran, mich schon wieder fotografieren zu lassen.
GERTRUD: Gehen wir doch einmal auf die Südseite Ihres schönen Hauses. Ich mag das Seelicht so gern. Sie können ja nicht wissen, dass ich aus Bösenreutin bin. Kennen Sie Bösenreutin?
FÄRBER: Ich sage, dass ich es nicht kenne.
GERTRUD: Na ja, kann man nichts machen. Sie sind halt nicht von hier. Bösenreutin liegt gleich hinter Lindau droben. Es liegt schön, Herr Doktor.
FÄRBER: Plötzlich rief sie:
GERTRUD: Genau. Immer noch der alte. Von Bösenreutin aus hat man noch mehr seine Morgenseite. Sie sehen ihn hier schon fast zentral. Den Säntis, meine ich. Haben Sie das auch schon bemerkt, dass der keine Stunde lang gleich weit weg ist? Das hab ich, glaube ich, schon als Kind kapiert durch den Säntis, dass der Unterschied zwischen Nähe und Ferne nur was Optisches ist. Das Wetter schiebt ihn ja ununterbrochen weg und her und wieder weg, den Koloss. Manchmal löst er sich doch wirklich auf im Ferndunst. Und dann, plötzlich, steht er wieder dunstlos direkt und nackt vor dem Fenster, als wäre überhaupt kein Bodensee dazwischen.
FÄRBER: Bei Föhn, meinen Sie, sagte ich, um auch etwas Kennerschaft zu verraten.
GERTRUD: Bei Föhn! Bei Föhn ist mein Vater durch Haus und Hof gerannt und hat gesungen. Stundenlang die gleiche Zeile.
Sie singt in einer wilde Sprünge machenden Intonation jede Wiederholung des Satzes völlig anders.
Im Augenblick möcht ich nicht sterben. Im Augenblick möchte ich nicht sterben. Im Augenblick möchte ich nicht sterben. Wem der Föhn was ausmacht, der lebt falsch. Hat mein Vater immer gesagt. Macht Ihnen der Föhn etwas aus?
FÄRBER: Ich sagte: Er bringt mich schier um.
GERTRUD: Dann leben Sie falsch. Ich auch. Ich ertrag ihn auch nicht. Ich krieg sofort Migräne.
FÄRBER: Später sagte sie einmal, der Säntis habe ihr von Anfang an gezeigt: Jeder steht allein. Zuerst glaube man doch, der Säntis gehöre zu den Alpen, zum Panorama, dann sehe man aber: Er steht allein. Na ja, das war sehr viel später. Jetzt setzte sie mich zuerst an den Terrassenrand. Dann ging es los.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 330–333.

Erstpublikation: Martin Walser: Tassilo: Säntis. Hörspiel. Stuttgart: Radius-Verlag, 1986. S. 13–17. © Martin Walser, 1978.