Literaturland
Sabine Wen-Ching Wang
Äfach
Ruth rieche nach Kuh, flüsterte Kathrin. Sie beugte sich zu mir, ich neigte mich ihr zu, und sie flüsterte mir das ins Ohr. Sie lächelte dabei, als schäme sie sich dafür, als rieche sie selbst nach Kuh. Aber es war Ruth. Ich roch es nun auch. Ruth roch nach Kuh. Ich roch es, wenn Ruth sich zu mir beugte, um mir etwas zuzuflüstern.
Wir waren vierzehn, zweite Sekundarklasse. Ich sass zwischen Ruth und Kathrin. Kathrin wohnte in einem Einfamilienhaus nahe der Käserei. Ich war in einem Wohnblock zu Hause, unterhalb des Bahnhofs und der Landmaschinenfabrik. Meine Eltern pendelten jeden Tag in die Stadt. Wir waren Zugezogene, hatten Spanier, Italiener, Bähnler als Nachbarn. Ruth kam von einem Hof, der nicht abgelegen lag, aber auch nicht mittendrin. Er stand an einer Strasse, die von unserem Dorf ins nächste führte. Etwa in der Mitte zwischen Dorfrand und Wald. Man konnte ihn von der Postauto-Haltestelle aus sehen. In der letzten Kurve vor dem Wald.
Ruth rief mich eines Nachmittags an. Es war Mittwoch oder Donnerstag, im Winter. Ich war überrascht, ihre Stimme zu hören. Sie hätten ein kleines Kalb, sagte sie, oben im Stall. Ob ich mitkommen, es anschauen wolle? Weil ich Tiere doch möge, fügte sie wie zur Entschuldigung an.
Der Wagen stand auf der anderen Strassenseite. Es war schon dunkel. Im Licht, das schwach auf die Armatur fiel, konnte ich niemanden erkennen. Aber ich wusste, es war der Wagen, der auf mich wartete. Es war ein Kombi, braun. Ruth öffnete die Türe. Sie sass hinten, ihr Vater am Steuer. Als ich einstieg und grüsste, wandte er sich nur halb um. «Grüezi», sagte er. Das war alles, was er sagte. Dann startete er den Motor. Wir fuhren an der Käserei vorbei. Sie lag am Fuss der Hügel. Strohballen waren am Zaun montiert, damit die Schlittler sich die Köpfe nicht einschlugen beim Abbremsen. Jetzt war niemand mehr unterwegs. Wir fuhren in der Wagenspur hinauf. Der Schnee lag hoch, in der Mitte des Strässchens und auf den Seiten. Dort hatte der Pflug Kanten herausgeschnitten, die der Wind wieder überwehte. Die Räder spulten. Der Vater murmelte. Ruth murmelte. Ich murmelte. Er liess den Wagen ein Stück zurückgleiten. Wir holten Anlauf. Wir fuhren. Wir spulten. Wir schwiegen. Es schneite.
Der Stall, in dem sie das Vieh winterten, war in den Hang gebaut. Oben standen die Kühe, unten die Kälberboxen. Drei Kälber. Ich kraulte sie an der Stirn, sie stiessen den Kopf hoch, leckten an meinem Ärmel. Sie sahen mich dabei von schräg unten an, mit diesem Viehblick, der immer leicht verdreht wirkte. Ruth rührte Milch mit einem Pulver an. Drei Eimer voll. Zwei stellte sie zu den grossen Kälbern, den dritten gab sie mir. Er war für das kleine. Sie nannte mir keinen Namen. Es war einfach das Kalb, das Es, das Kleine. Ruth steckte einen Schlauch in den Eimer. Am anderen Ende war eine Zitze aus Gummi. Sie schob sie dem Kalb ins Maul. Ich hielt den Eimer. Es zog die Milch hoch. Wenn ihm die Zitze herausfiel, schob ich sie wieder rein.
Ruth steckte ihre Hand in sein Maul. «Mach mal, das kitzelt», sagte sie. Dann ging sie nach oben.
Das Kalb leckte an meinen Fingern. Es zog meine Hand in sein Maul, in dem es warm war, sehr warm. Sein Gaumen war rau, an meiner Handfläche kitzelte die Zunge. Seine Zähne waren noch nicht durchgebrochen, aber ich spürte, wie sie stiessen im Fleisch. Seine Muskeln schlossen sich fest um meine Hand. Es saugte. Die Muskeln gaben nach, sie schlossen sich, sie gaben nach, sie schlossen sich – immer tiefer zog es meine Hand hinein. Ich fürchtete, es könnte mich verschlucken, erst die Hand, den Arm, dann mich.
Es war still oben im Stall. Die Kühe standen in zwei Reihen. Sie frassen mit gesenkten Köpfen in den Krippen. Ihre mächtigen Rücken, die kotigen Flanken standen reglos da. Nur die Muskeln an Schultern und Hals spielten unter dem Fell. Die Schwänze hingen aufgebunden an einer Schnur. Sie bewegten sich kaum, nicht wie im Sommer, wenn sie hin- und herpeitschten, um die Fliegen zu vertreiben. Ich hörte ihre mahlenden Molare. Fladen pflatschten in die Rinne. Das Radio lief. Dampf stieg auf. Ich suchte nach Ruth. Ich fand nur den Vater. Er stand gebückt zwischen den Kühen. Ich weiss nicht mehr, was er tat, ob er molk, ob er mistete. Ich sah nicht hin. Er sah nicht auf. Ich hatte eine Scheu vor ihm. Eine Scheu vor seinem Gesicht. Ein eigentlich schönes Gesicht, aber immer in sich gekehrt, immer düster. Als berge es einen Zorn in sich, dessen Grund ausser ihm niemand kannte.
Ruth kam mit einer Schubkarre um die Ecke. Ich fragte, ob ich helfen könne. «Neinnein», sagte sie, «ich mach das schon.»
«Wer ist dafür?», fragte der Lehrer. Alle streckten auf. Alle waren dafür. Alle ausser – «Wer ist dagegen?» – Ruth. Ruth war dagegen. Ruth streckte auf. «Warum?», fragte der Lehrer. «Äfach», antwortete sie. «Jo äfach, aber warum?» Ruth zuckte mit den Schultern und schwieg. Sie war einfach dagegen. Sie konnte nicht sagen warum.
Alle, die dagegen waren, konnten nicht sagen warum. Sie sagten alle «äfach», «Seich», «da bruucht’s nöd», wischten mit der Hand durch die Luft und schwiegen. Sie schwiegen, als lohne es sich nicht, weiterzusprechen. Als würden wir sie ohnehin nicht verstehen. Als ginge es um etwas, das vielleicht etwas ganz anderes war, nicht in Worte zu fassen.
Ruth also war gegen das Frauenstimmrecht, ausserdem wollte sie Lastwagenfahrer werden.
Ich ging auf die Kantonsschule. Ich war ein Ärztekind, das zusammen mit den Lehrerkindern und Buchhalterkindern auf die Kantonsschule ging. Die andern blieben da, in der dritten Sekundarklasse. Jeden Tag radelte ich ins Nachbarsdorf. Das Velo ging immer kaputt. Meistens auf dem Schulweg. Der Reifen war platt. Die Kette fiel raus. Das Kabel riss. Das Schutzblech schepperte. Das Licht splitterte. Die Gänge spielten verrückt. Ich stürzte. Ich kam zu spät. Ich hatte schwarze Hände.
Es war still in der Werkstatt, die an meinem Schulweg lag. Die Velos standen in zwei Reihen. Ruth trug einen dunkelblauen Overall. Das mit der Lastwagenfahrer-Lehre hatte nicht geklappt, also hatte sie inzwischen hier mit Velos begonnen. Vorläufig, flüsterte sie mir zu, und Mofas seien ihr natürlich lieber. Ruth sah sich mein Velo an. Es war ein schwerer Fall. Sie wollte den Chef um Rat fragen. Der Chef stand gebückt hinter einem aufgebockten Mofa. Er hielt eine Zange in der Hand. Ruth hatte sich einen Jungston angewöhnt. Sie benutzte knappe, etwas ruppige Sätze. Er sah nicht auf, als er ihr antwortete. Auch dieses Mofa war ein schwerer Fall. Ruth sah ratlos aus. Er verrenkte sich nach einer schwer zugänglichen Stelle. Sie fragte noch einmal nach. Er reagierte nicht, so sehr bückte er sich über diesen Motor. Das Radio lief. Er seufzte. Ruth lachte. «Komm am Freitag wieder», sagte sie zu mir, «ich mach das schon.»
Wenn ich an Ruth denke, frage ich mich, ob sie es gemacht hat. Ob sie Lastwagenfahrer geworden ist. Manchmal fürchte ich, dass es diesem Traum wie dem Kalb ergangen sein könnte. Dem kleinen Kalb von damals, nach dem ich sie später einmal fragte. «Säb isch scho laang gmetzget», sagte sie, und sie sagte es eine Spur zu laut. Dann wieder stelle ich mir vor, wie sie am Steuer eines Lastwagens sitzt, hoch oben, über allen anderen Wagen. Wie sich die Strasse vor ihr ausbreitet. Wie sie fährt und fährt und fährt. Wie sie Paletten lädt, im Jungston. Im Stau steht, am Zoll. Auf Parkplätzen nächtigt. In Raststätten Kaffee holt. Was über ihrer Armatur hängt. Ob da ein Schild ist, auf dem ihr Name steht. Wie sie sich nennt. Wie sie jetzt riecht.
Ich frage mich, was sie mit dem grauen Couvert tut, wenn sie nach Hause kommt. Ob sie es mit jener Handbewegung von damals – Seich – ins Altpapier gibt. Ob sie es öffnet, die Zeilen füllt mit ihrer etwas kindlichen Schrift, mit einem Frauen-, einem Männernamen, mit irgendeiner Partei.
Ja.
Nein.
Ja.
Nein.
Ich weiss es nicht.
Ich bin mir nicht sicher.
Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 521–524.
Erstpublikation: Sabine Wen-Ching Wang: Äfach. In: 60 Jahren Menschenrechte. 30 literarische Texte. Zürich: Salis Verlag, 2008. S. 188–196.