Literaturland


Walter Weigum

Töne, Geräusche

1996

Als Sohn einer protestantischen Pfarrersfamilie verbrachte der Verfasser seine Kindheit und Jugend in Appenzell. Seine Autobiografie folgt den Geräuschen und Düften einer «stillen und abgeschiedenen Welt voller Originale und Seltsamkeiten».

In meiner Kindheit in Appenzell (1913–1922) spielte der Motor noch keine grosse Rolle. Unser Randquartier Ziel, das Dorf Appenzell, der ganze Talkessel war geradezu gesättigt mit Ruhe. ‹Stille› wollte ich sagen, aber das würde nicht passen; denn Töne, Geräusche gab es, aber kaum je Lärm. Die Töne, Geräusche waren voneinander unterscheidbar; sie bezogen sich meist auf einen Vorgang und auf ein Bild, die mir vertraut waren. Sie sagten z. B.: «Das ist Schlosser Brander (1) in der Hauptgasse, der im Hinterhof eine Eisenstange biegt.» Es konnte so wirken, wie wenn man in der Dämmerung oder bei Nebel allein auf ein einsames, unbekanntes, unbeleuchtetes Haus zugeht: es wird einem unheimlich; tönt aber plötzlich Pfannengeklapper oder Stühleschieben heraus, so fällt das Unheimliche ab. – Die Töne, Geräusche in Appenzell waren meistens auch von kurzer Dauer, und die wenigen langdauernden oder starken waren für uns im Ziel nicht lästig nah. Motoren gab es wenige: das war zuerst einmal die ‹gute, alte Zeit›, aber es war auch Appenzell I. Rh., dies abgelegene Bauernland, fast ohne Industrie, mit Verkehrswegen, die alle hier am Fusse des Alpsteins endeten. Autos gab es meines Erinnerns nur ein einziges im Kanton (also auf rund 14 600 Einwohner eines; heute auf weniger als drei Einwohner in der Schweiz eines): Es gehörte bezeichnenderweise dem Tierarzt – die drei Menschenärzte besassen keines. Bei den Menschen eilte es offenbar nie so wie beim Vieh. Dieses Tierarztauto, eine hohe, kantige halboffene oder offene Kutsche, hörte man dann allerdings von weither. Ich hörte das Auto unten im Talkessel rattern, wenn es gegen Gontenbad fuhr oder, auf der anderen Talseite, wenn es am Hirschberg Gais zu verschwand, also aus eineinhalb bis zweieinhalb Kilometern Entfernung. […]

Sommerferien, beim Gedanken daran höre ich auf dem Schulweg in mir schon die Töne, die zum ersten Ferienmorgen gehören, den Klang der Sensen unter dem Wetzstein von jenseits der Sitter.

Schule hatten wir in der ersten und in der vierten Klasse im alten Schulhaus am Landsgemeindeplatz. Die Längsseite des Klassenzimmers ging auf den mit diesem Platz verbundenen kleineren ‹Marktplatz› hinaus. Im Sommer standen natürlich unsere Fenster offen, und da tönte von jenseits, aus etwa 40 Metern Entfernung, der Klang der Schmiede zu uns herein, nie als etwas Störendes, sondern vergleichbar mit der ‹Backgroundmusik› der heutigen Jungen. Warum diese lauten Klänge den Unterricht nicht störten, weiss ich eigentlich nicht (als Lehrer hätten sie mich später gestört): Ich vermute, einmal weil sie wirklich saubere Töne und keine Misstöne waren, dann weil sie rhythmisch abgesetzt und nicht als Dauertöne zu uns heraufdrangen, und endlich weil wir Schüler auf lautes Sprechen gedrillt waren. Wenn ich mich recht erinnere, hatte unser Lesen und Sprechen in der Schule etwas deklamatorisch-eintönig Lautes, in Übereinstimmung mit der Leitinstitution Kirche, ihrer Litanei und ihrem lauten Massengebet (auch die politische Rede hatte einen ähnlichen Stil). Wie diese Schmiedetöne entstanden, konnten wir in der Pause feststellen. In der weit offenen Türe der grossen geschwärzten Schmiede stehend, sahen wir die rote bis gelbe Glut in der Esse und den Schmette-Bisch (Schmiede-Baptist) (2) oder einen Gesellen am Amboss. Mit seiner langen Zange hielt er das glühende Werkstück auf dem Amboss fest und liess mit der rechten den schweren, klobigen Hammer darauf fallen. Die reinen Töne stammten aber nicht von diesen Hammerschlägen: Der Schmied hatte die Gewohnheit, nach jedem Schlag auf das Werkstück oder nach mehreren Schlägen in einem bestimmten Rhythmus den Hammer ‹leer› auf den Amboss fallen zu lassen, und zwar so, als ob der Hammer, vom Werkstück zurückfedernd, von der Hand nur leicht nebenausgeführt würde. – Mehr nur Geräusche als Töne hörten wir, wenn der ‹Schmette-Bisch› ein Pferd beschlug: den leichten Metallton von Hammer auf Hufnagel und -eisen und zugleich das stumpfe Geräusch, welches die Schläge auf den Huf verursachten.

Wurde diese Arbeit in unserer Pause verrichtet, so sah ich zu: Ich bewunderte den Gesellen, der die Mittelhand des Pferdes gegen seine, des Gesellen, Oberschenkel gepresst hielt und oft schwer gegen das widerspenstig zuckende Pferdebein zu kämpfen hatte. Währenddem riss der Schmette-Bisch mit einer Zange die Rossnägel aus dem Huf und schlug das alte Hufeisen ab. Dann passte er das neue an, wobei er mit einer Art Schustermesser am Huf herumschnitt oder ihn mit der Hufraspel bearbeitete. Ich wunderte mich anfänglich, dass das Pferd nichts dabei empfand, wenn man so dicke Späne von seinem Fuss schnitt. Dass es eigentlich nur seine ‹Zehennägel› waren, die man beschnitt, ging mir erst allmählich auf. Noch mehr wunderte ich mich über die Unempfindlichkeit des Pferdes, wenn der Schmette-Bisch mit dem halbglühenden neuen Hufeisen in der Zange kam, es auf den vorbereiteten Huf legte und dann mit Hammerschlägen verpasste. Dabei stieg eine graue Wolke auf, und der Gestank von verbranntem Horn verbreitete sich. Am meisten erstaunte mich, dass es das Pferd, ohne Schmerzen zu zeigen, duldete, wenn nun der Schmette-Bisch durch die Löcher des erkalteten Hufeisens die langen Rossnägel tief durch den Huf schlug. Ich habe in späteren Jahren gesehen, dass man die Pferde zum Beschlagen in ein Balkengerüst stellte: So konnten sie sich nicht losreissen und ausschlagen. Der Schmette-Bisch hatte keinen solchen Käfig; offenbar vertraute der grosse und starke Mann auf seine Kraft und die des Gesellen, der das Bein hielt, und des Pferdebesitzers, der beim Kopf des Pferdes stand und mit den Kandaren dessen Widerstand dämpfen konnte. Schlug das Pferd aus, bevor der Geselle die Mittelhand hochgerissen hatte, so waren er und der Meister einigermassen vor den Hufschlägen geschützt durch die dicken Lederschürzen, die sie von der Brust bis zu den Knien oder Schienbeinen vorgebunden trugen. Die Schürzen schützten sie auch vor springender Glut oder dem glühenden Werkstück (an Lederhandschuhe erinnere ich mich nicht). Kräftige Gestalten in Lederschürzen, mit hochgekrempelten Hemdärmeln, russige Gesichter mit Spuren von rinnendem Schweiss; so stellten sich der Schmette-Bisch und seine Gesellen uns dar. Vielleicht hätte ich den Schmette-Bisch – ähnlich wie den Kaminfeger – an Sonntagen gar nicht wiedererkannt, und dann wäre er für mich nicht mehr der Schmette-Bisch, sondern der Herr Neff gewesen.

(1) Jakob Hermann Brander (1879–1952).
(2) Johann Baptist Neff (1868–1941).


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 281–283.

Erstpublikation: Walter Weigum: Ketzer, Kind und Konkubine. Eine Kindheit in Appenzell (1913–1922). Basel: Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde, 1996. S. 17, 27–28.