Literaturland


Willy Werner

200 Stunden auf dem Gipfel des Säntis

1938

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Säntiszauber
Soll man noch warten, oder soll man mit dem nächsten Wagen mit hinauf, zur Höhe auf?
Oder will man sich die ganze Sache erst einmal von unten herauf gründlich ansehen?
Es scheint doch eine ganz kitzelige Geschichte zu sein, und wenn dann so ein «Herrgotts-Seil», das sich im «Himmel» drin verliert, reissen sollte, gerade in dem Augenblicke, da man selber in der Kabine ist, oder wenn man dann einmal nicht weiter käme?! Wenn man, ach, so mitten zwischen Himmel und der Erde hängen bliebe, wenn alle «Stricke» reissen würden, wenn der «Himmelswagen» nicht mehr weiter wollte und man drinnen zu Grunde gehen müsste und verhungern und verdursten und keine «Himmelsleiter» einen da erreichen würde? Oh, es wäre gar zu furchtbar, wenn es nicht so grausig schön noch wäre, zuzusehen, wie die Wagen auch bei Sturm und Wetter so seelenruhig nach – und von dem Himmel gleiten. Ja, die ganze Geschichte geht so ruhig irgendwo da in die Wolken hinauf, und kommt so friedfertig herunter, und die Leute sind so voll Freude, und glänzen teilweise noch im «Ätherblau», dass die ganze Geschichte sicherlich nur halb so schlimm ist, überhaupt nicht schlimm ist, sondern sehr gemütlich und «beruhigend». Wunderbar sogar, und einzig, dass man auf das greise Haupt des Säntisberges hinaufschweben kann, ganz so ohne Sorge und Gefahr, einfach wunderbar!
Ja, da ist alles technisch und wissenschaftlich so genau berechnet, und alles doppelt, dreifach und siebenfach gesichert. Notfälle, an Apparaten konstruiert, erprobt, Sturm- und Wetterfahrten durchgeführt, gemessen, Halt gemacht, in Sturm und Not zum Trotz, in Wind und Wettern. Ruhig gleitet die Fahrt und sicher, bergauf und -ab.
Wie lautlos gleiten die Seilräder hin, wie greifen die Zangen und die Hebel ein, wie spielzeugleicht erscheint die Kabine zum Traggestell, und wie die Seile spielend ziehen und tragen, alles wie in einem Wunderwerk.
Und wie sie glücklich winken, aus der «Himmelsbläue», nun unsichtbar geworden, über aller Erde Leid.
Und da kommt auch schon die andere «Himmelskabine» wieder steil herunter, noch so kaum sie ging.
Es ist also doch kein «Teufelswerk» und auch kein «Spuk», sondern ein wohldurchdachtes, wohlerprobtes Meisterwerk der Technik und des Menschen Kraft und Wille. So steht auch der Ungläubige schon am Säntisschalter, dicht im Andrang, «ein Billett noch schnell, Extrafahrt, ganz schnell, Säntis retour, gleich welcher Klasse, aber bis hinauf, und ganz herunter. Berücksichtigen Sie mich doch noch schnell, Herr Schaltermeister, schnell, ich muss noch mit.» Und der Schaltermeister nimmt ein Telephon zur Hand, als wollte er noch sagen, dass noch einer mitkommt für den «nächsten» Wagen, der vom Himmel kommt. Und er kommt auch schon, und in elf Minuten ist er auf der Höhe, «ruhig und gelassen».

Zug der Wolken
Hoch treiben die Cirrus im Ätherblau. Da häufen sich «Schäfchen», da ballen sich «Stratus», da wettern die «Kumuli», und man wird nie müde, den Traumgebilden zuzusehen, den «wandernden Seelen», dem wechselnden Spiel, dem farbigen Leuchten, dem rollenden Schatten und dem lindluftig leisen Vergeh’n.
Es ist um die Wolken so schön, und so verschieden ist stets ihr Schweigen, so schön in ihrem verträumten Spiel. Und ihrem unbekannten Wanderzug seh’ ich so gerne zu.
Auch wenn sie wild und schwarz und dräuend geworden sind, wenn sie aus abgrundtiefen Hexenkesseln brodelnd emporgestoben, sturmgepeitscht daherjagen, als wollten sie alles verschlingen, mitreissen, in unbekannte Tiefen schmettern, wenn jäh die Blitze sie erhellen, die Donner sie zerreissen, als wankten selbst die Felsen von tausendfach erdröhntem Widerhall, bis Nacht und Nächte sie zum Schweigen bringen, und der Sonne Scheiden leis sie noch umglüht, nach Tag und Kampf sie stille heimwärts ziehen, einem unbekannten Ziele zu!

Spiel der Dohlen
Ihr schwarzen Gesellen,
Ihr Segler der Lüfte,
Was hebt euch so kühn
In den Äther empor?
Was treibt euch die Kreise
Zu lustigem Spiel?
Ihr sturmerprobten
Wandergesellen!
Ihr Gipfelstürmer,
Gefrässiges Volk,
Und frei seid ihr, frei
Von Schwere und Leid,
Und unbezwungen
In euerm Felsenreich!

Es ist etwas Eigenes um diese schwarzsamtenen Gesellen mit den langen, gelben Schnäbeln und den zierlich roten Füsschen und den blinkenden Augen, die alles sehen, was nur zu erhaschen ist. Man hat sie gerne. Stunde um Stunde könnte man ihnen zusehen und nie müde werden an ihrem krächzenden Spiel. Je toller der Wind, je toller ihr Spiel. Und das wirbelt und zwirbelt und schiesst durch die Luft, der Bergdohlen spielende Lust. Sie wecken und necken und kreisen dahin, und wo es etwas zu fressen gibt, da ziehen sie hin und schnell ins Ziel, das ist der Bergdohlen Spiel. Ja, das ist der Bergdohlen Spiel.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 346–348.

Erstpublikation: Willy Werner: 200 Stunden auf dem Gipfel des Säntis. Altes und Neues Erlebtes und Erschautes in 2500 m Höhe. Teufen: H. Stadelmann, 1938. S. 9–11, 30–31.