Literaturland


Angelika Wessels

Prolog

2014

Unveröffentlichter Prolog zum Roman-Erstling Einsatz im Alpstein. In einer Konzept-Fassung trug der Roman den Titel Der Steinmann.

Fels gewordenen Gedanken gleich stehen sie da, in stetem Wandel begriffen, ewig nur im Auge des menschlichen Betrachters, der sie mit Namen bedacht hat, Namen, die heute noch klingen und morgen schon Schall und Rauch sein werden. Säntis, Altmann, Marwees, Hundstein, Rot Turm, Kreuzberge, Roslenfirst:

Wer war der erste Mensch hier oben, nach den Höhlenbären, deren Knochen gegenüber in einer Höhle am Hundstein bleichten, nach den Steinböcken, den Gämsen, den Vögeln und ihrem wechselnden Gesang?

Wessen Fuss betrat diese weite Hochfläche mit dem Blick ringsum auf die nahen Gletscher, die fernen Gipfel, die noch fernere Tundra der Ebenen mit den vorüberziehenden Rentierherden, später dann die ersten lichten, dann immer dichter werdenden Wälder, die Hügel, den Gletscherrandsee, noch mit anderem Uferverlauf als der heutige Bodensee, noch von grossen Eisflächen flankiert?

War es der Homo neandertalensis, gestützt auf einen einfachen Speer, eingehüllt in Fell von in der Umgebung erlegtem Getier, Pyrit-Steine aus den Wänden beim Wildkirchli in seinem Beutel und Feuersteine, die von weit her aus dem Norden kamen, dem Land am grossen Wasser, diese unendlich wertvollen Dinge, die es ihm erlaubten, Feuer zu machen, zu überleben in der Winterkälte, im Feuerschein zu berichten von den Taten der Vorfahren, überliefert von Generation zu Generation, in der schon präzisen Sprache seiner Sippe, der auf die nahen Gletscherflächen des Rheintals hinabsah, auf den Speer gestützt, auf der Suche nach Beute, die es ihnen weiterhin zu überleben erlaubte, noch einen Winter und noch einen, um schliesslich verdrängt zu werden, fast spurlos, von dieser neuen Art von Menschen, weniger gedrungen und kräftig als er?

War es der spätpaläolithische Jäger von der Altwasser-Höhle? War er vor dem Abri gestanden und hatte hinaufgeblickt, dann zurück zur Feuerstelle mit den verbrannten Knochen, den Resten der letzten Mahlzeit, Steinbock, Gämse, den vom Unterhalt der Waffen und der Werkzeuge übriggebliebenen Knochen- und Steinsplittern? War er dann, alleine oder mit seinen Jagdgefährten, zur Saxer Lücke hinaufgestiegen, vorbei am kleinen See, der sich am Rande des sich vom Altmann herabziehenden Gletschers in der Ebene gebildet hatte, sich einen Weg suchend über die steile Flanke des Firsts, Neuland, unbekannt, reiz- und gefahrvoll, auf dem Weg zurück in die Gegend südlich der Alpen, woher er womöglich stammte?

War es beinahe siebentausend Jahre später die Zeitgenossin des Mannes vom Similaun gewesen, eine Sesshafte, eine Frau, schon mit den Umwälzungen des Neolithikums vertraut, die, von ihrem Hund begleitet, auf der Suche nach Heidelbeeren hinaufgestiegen war, während ihre Familie unten im Tal den Acker bearbeitete, die Ziegen molk, während sie, um den Speisezettel zu bereichern, immer höher geklettert war, selbstvergessen die reifen, blauen Beeren sammelnd und ab und zu kostend, den Hund, nach Schneehühnern stöbernd, um sich herum? Die, ungewollt und überrascht, den Grat und die obersten Flächen erreicht hatte, sich umsah und befand, dass es sich wohl lohnen würde, im Sommer für einige Wochen mit den Ziegen hinaufzusteigen, um die Weiden im Tal zu entlasten. Die hinüber nach Norden blickte, zum See, an dem ihre Verwandten lebten, in den Uferrandsiedlungen auf Pfählen am Wasser, während sie, Pioniere, ins mühsam gerodete und urbar gemachte Hinterland vorgedrungen waren.

Oder sass hier oben als Erster der Räter, den die Neugier heraufgetrieben hatte? Den Blick hinabgerichtet auf die grünbraune Ebene des Rheintals, auf den frei mäandrierenden Fluss, das Wasser das einzige Reflektierende. Der an seine Familie dort unten im Tal dachte, den Ort am Hang, an dem ihre Behausung lag, suchend. Der an die Römer dachte, die im Abzug begriffen, ihre Sprache und einige Gebäude zurücklassend, von Fremden mit einer anderen Sprache verdrängt wurden. Eine neue, rauere Sprache, die nichts vom melodiösen Klang des Rätischen oder Lateinischen hatte. Hat vielleicht er den Namen Roslen geprägt, nach der Bezeichnung für die Runse und Rinne, Rosna und Rosa, nach den Runsen und Rinnen, die seiner Ansicht nach diesen Berg so einzigartig machten und an dessen Bezeichnung die Alemannen später ein für die südliche Alpsteinkette so typisches First anhängten. Und war es vielleicht auch er, ein altes Gebet zu Ehren seiner Göttin Rezia sprechend, das von seinen Vorfahren aus dem Val Camonica überliefert worden war, der den Grundstein zum Steinmann gelegt hat, um darauf ein einfaches Brandopfer darzubringen. Sah er hinüber zu den Kreuzbergen, hinab zum Rhein, dabei seine Göttin beschwörend, oder sah er den Horizont, die ungezählten Gipfel – und staunte? Ging er über das weiche Gras im Herbst? Trieb er schon Schafe? Berührte sein lederner Schuh die gleichen Felsen, die heute noch liegen, ausgewaschen vom Wasser, das in Jahrhunderten, Jahrtausenden Schratten und Rillen formte, feine Oberflächen und raue, helle und dunkle? Sah er hinüber zum Gipfel des Säntis, den geschwungenen Falten, noch ohne ein Zeichen menschlichen Daseins? Wuchsen schon damals die Brennnesseln und der Eisenhut, die Enziane und der aus den Spalten quellende Hauswurz auf den südlich ausgerichteten Felsen?

Nun dringt Verkehrslärm rauschend herauf aus dem noch im dämmernden Dunkel gelegenen Rheintal, fort die Verzauberung. Nie wird man wissen, wer der erste Mensch hier oben war und was ihn herauftrieb, was er dachte und fühlte, wen er liebte und was seine Seele im lnnersten bewegte.

Im Osten glimmt der erste helle Schein, wirft einen zarten Halbkreis über den gezackten, bläulich-schwarzen Horizont, das einzig Warme in einer erfrorenen Welt. Schneekristalle bewegen sich im leichten Wind über die Gipfel und Flanken des Alpsteins, haften am kühlen Fels, am trockenen Gras auf den abgewehten Ebenen und Graten. Die aufgehende Sonne vermag sie nicht zu schmelzen, dieses noch kraftlose Gestirn, dessen Schein sich langsam vom Gipfel des Säntis und des Altmann hinunter ausbreitet, der Schein, der auch die nach Osten orientierte Seite des Roslenfirsts in sein kaltes Rosa taucht, der die Wechten erreicht, die über der Südflanke hängen, den grossen Steinmann mit seiner nach Osten ausgerichteten Felsplatte, einer von einzelnen rundlichen, leicht gewölbten, gelblichen Einsprengseln übersäten, feinstrukturierten Fläche, halb vom angehäuften Flugschnee bedeckt. Ein Wintertag bricht an, bringt Licht in die schattigen Täler mit den gefrorenen Bergseen, lässt die höchsten Gipfel gleissen, lässt sie im Himmelsblau leuchten, von ferne sichtbar, der Alpstein, eine Insel, die aus der unauffälligeren Struktur des Umlands emporsteigt, einsam und erhaben.

Die Sonne zieht ihre Bahn über das Gebirge, seine drei Ketten, sie senkt sich gegen Westen, erreicht noch den Steinmann, die höchsten der Gipfel.

Und sie stehen, diese Berge, reglos, ungerührt, ihre Flanken glänzen in den letzten Strahlen der Sonne, schweigen in Schatten und Schnee, der schnelle Tritt einer Gämse, der Flügelschlag einer Bergdohle berührt sie wie ein flüchtiger Hauch.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 305–307.

Erstpublikation: Angelika Wessels: Unveröffentlichter Prolog zum Roman Der Steinmann. Typoskript 2014.