Literaturland


Andreas Züst

Fluoreszierende Nebelmeere

2007

Kunst und Wissenschaft benachbart: Der Klimatologe, Künstler und Sammler Andreas Züst hielt in seinen Notizen von Anfang Januar 2000 die Vor- und Nachdämmerungsphasen auf dem Bachtelturm im Zürcher Oberland fest, als einige Tage lang ideale Bedingungen für Lichtbilder fluoreszierender Nebelmeere herrschten. Züst, mit familiären Wurzeln im Appenzeller Vorderland, ist in der Nachfolge von Heim und Imhof zu verstehen.

Den letzten Himmelsmarathon unternehme ich gegen Mitternacht, einsetzende Bise, das Dreigestirn Jupiter Halbmond Saturn über dem Riesenwal Pfannenstiel, der an der Oberfläche des Watteozeans ein letztes Mal atmet, dann verhüllen ihn die Zeitlupenwogen. Nach Versinken der prägenden Konstellation tauche ich ab, um unter Daunen wegzuträumen.

Vier Stunden später muss hartglasiges Eis von den Autoscheiben gekratzt werden, langsam stetig unerbittlich ist der graue Flaum über Nacht aufgequollen, die enorme Badewanne Mittelland füllt sich mit kontinentaler Arktikluft, per Nordoster verfrachtet. Auf dem Turm weht eine harte Brise, der weiter emporsteigende Nebel ist von einer Dunstschicht überlagert. Die Gegendämmerungserscheinungen gedämpft/pastellig indigo ultramarindunkel blauviolett altrosa blassorange. Die Nebeldecke, anfänglich vom Kunstlicht beleuchtet, verblasst, wird von den Himmelsfarben verhalten eingefärbt. Gegenüber sachte Aurora, der Stachel des Skorpions berührt noch den Mürtschenstock, seine Scheren zeigen steil in den Südhimmel, und Venus wandert strahlend Richtung Schütze, in den Lichtglanz des Morgens, der lautlos heranrast.

Zwanzig Minuten vor Sonnenaufgang sind die Filme vorzeitig verbraucht, die Obergrenze des Kaltluftmeeres hat den Fuss des Turmes erreicht, an dem ich beinahe festgefroren bin. Ich kreise die Treppe hinunter, Blindflug durch die graue Eiswatte nach Hause und taue im warmen Badewasser wieder auf.

 

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Andreas Züst: o.T. (2/5). 2000. (Aufnahmeort: Bachtel ZH, Blick Richtung Alpstein.) © Nachlass Andreas Züst / Graphische Sammlung, Schweizerische Nationalbibliothek, Bern.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 354–355.

Erstpublikation: Andreas Züst: Fluoreszierende Nebelmeere. Fluorescent Seas of Fog. Zürich: Edition Patrick Frey, 2007. Unpag.