Literaturland


Walter Züst

Die Johannisfeier am Kindlistein

1998

Der im 16. Jahrhundert spielende Roman verwebt Fakten mit Fiktion. Er erzählt das Leben der Dornesslerin Agatha Roner, die der Hexerei bezichtigt, hernach gefoltert und verbrannt wird. Vermeintlicher Schadenzauber und Ketzerei reiben sich am christlichen Glauben – Verbotenes wirkt erst recht anziehend.

Um die Zeit der Sonnwende, wenn man das Johannisfest feiert, kam die Engel Bänziger von der Rüti auf Besuch. Fragte die Agatha, wie es so gehe beim Schmied Herzog. Schaute mit neugierigen Augen um sich. Und fragte beim Abschied, ob sie auch wieder an das Johannisfest komme, wie letztes Jahr. Agatha sagte ihr zu. Es war jene Feier, welche von den Prädikanten verboten worden war. Diese heidnischen Bräuche seien vom Teufel, hatte der Pfarrer Müller gesagt. Besser wäre, man würde in dieser Zeit beten und in der Bibel lesen. Aber eben, gerade weil die Feier verboten war und in aller Heimlichkeit abgehalten wurde, war sie so anziehend. Und aus allen Himmelsrichtungen kamen sie herbei: Die Altgläubigen und die Neugläubigen, sie alle, die an den alten Bräuchen festhielten.

Agatha war nicht das erste Mal dabei. Als sie noch in der Hellmühle gedient hatte, war sie schon zum Kindlistein gegangen. Und seither jedesmal, wenn die Feier stattfand. Den Tag des Festes legte jeweils der Johannismeister fest. Wer es war, blieb geheim. Und wusste man den Namen, durfte man ihn nicht preisgeben. Der Stand des Mondes war bei diesem Fest von grosser Bedeutung. Nur um die Zeit des Vollmondes konnte die Feier gehalten werden. Und das Wetter musste klar sein. Es gab Jahre, in denen die Feier nicht gehalten werden konnte, weil es regnete. Ein gutes Zeichen war dies nicht. Ängstliche Gemüter warteten gespannt darauf, bis das erwartete Unglück eintraf. Und das liess meist nicht lange auf sich warten.

Vier Tage vor Johannis war Vollmond, der Himmel wolkenlos. Agatha und Engel gingen den alten Holperweg vom Nayenriet hinauf zur Raspla. Hasteten voll Aufregung durch den Tannwald. An den eigenartigen Figuren vorbei, die der Mond auf den Waldboden zeichnete. Von allen Seiten huschten Gestalten durch den Wald. Man hörte ihre Rollenglöcklein, die an ihren Kleidungen hingen, leise klingeln. Als Agatha und Engel beim Hirschbergholz ins Freie traten, sah man schon das Johannisfeuer beim Kindlistein auflodern. Im roten Schein des Feuers glühte der geheimnisvolle Felsen zu Ehren der Erdgeister und ragte aus dem Erdreich zum Himmel. Der Stein, in dessen Höhle in den Hungersnöten Kindli ausgesetzt worden seien, wie erzählt wurde. Um die Erdgeister zu versöhnen. Damit sie das Korn wieder wachsen liessen.

Der Johannismeister stand oben auf dem Kanzelstein. Er hatte sich das Fell eines Stierkopfes mit Hörnern übergestülpt. Seine Maske warf gespenstische Schatten an die Felswand über ihm. Vermummte Gestalten sassen oben beim Tanzplatz. Niemand sprach ein Wort. Alles ging höchst geheimnisvoll zu. Im Süden schimmerte der Mond durch die Tannäste bei der Raspla. Auch Agatha und Engel hatten sich eine Maske überzogen. Es waren Masken, wie man sie früher an der Fasnacht getragen hatte. Als man im Glauben noch einig war. Als alle noch Fasnacht ausgelassen gefeiert hatten. Der Johannismeister hob seinen Stab in die Höhe und gebot Ruhe. Wie von weit weg hörte man ihn unter der Maske reden. Er erinnerte an die Geister der Ahnen, die es zu ehren gelte. Man tue dies mit dem alten Rundgesang. Die Masken hockten im Kreis um das Johannisfeuer. Ein Maskierter begann auf seiner Geige zu spielen. Und der Johannismeister begann in hohen, verhaltenen Tönen zur Melodie der Geige zu singen und sich im Kreise zu drehen. Die Maskierten rundherum sangen ihm nach, die zweite und die dritte Stimme. Er tönte eigenartig fern, dieser Gesang, von den Masken verschluckt. Es war, als komme er tief aus der Erde.

Nach jedem Tanz reichte der Diener dem Johannismeister den Becher mit Johanniswein. Danach machte der Becher die Runde. Man musste die Maske hochhalten, wenn man aus dem Humpen trinken wollte. Dem Diener des Johannismeisters entging nicht, wer sich unter den Masken befand. Nach den verschiedenen vorgegebenen Tänzen besprach sich der Diener mit dem Johannismeister. Sie flüsterten miteinander, und der Johannismeister machte mit seinem Stab geheimnisvolle Zeichen in Richtung Kindlistein. Die Maskierten sassen gespannt im Kreise. Nach längerem Hin und Her kam der Diener auf Agatha zu und forderte sie auf, mit ihm zu kommen. Agatha zitterte vor Schreck. Widerwillig folgte sie ihm. Bei der Kanzel am Kindlistein nahm ihr der Diener die Maske ab. Der Johannismeister empfing sie mit seinem Stab und schlug ihr auf die linke Achsel. Sie sei auserkoren, den Johannistanz vorzuführen, flüsterte er ihr zu. Darauf führte sie der Diener in den Kreis der Masken. Dorthin, wo die dumpfe Trommel unentwegt, immer im gleichen Takt, geschlagen wurde. Der Diener reichte Agatha ein kleines Spanschächtelchen mit einem grauen Pulver. «Schnupf es, im Namen des heiligen Johannis», sagte er mit tiefer, verstellter Stimme. Als sie das eigenartige Pulver in die Nase zog, verging ihr Hören und Sehen. Und als sie glaubte, wieder zu sich gekommen zu sein, sass sie an einem grossen Tisch. Er war grösser als der Tisch, auf dem man in Thal das Abendmahl austeilte. Viele unbekannte Leute sassen darum herum. Wundersame Dinge wurden aufgetischt, von denen man nur träumen konnte. Grosse Schalen mit Pomeranzen, süsse Datteln, Paradiesäpfel, Rosinen, Fische und gebratene Krammetsvögel. Nicht zu vergessen das wunderbar duftende Gebäck. Besser als es der Bilbeck in seinen besten Stunden backen konnte. Und alle, die darum herum sassen, griffen gierig zu und holten sich die auserlesenen Speisen. Auch Agatha machte tüchtig mit.

Hinter dem Tisch sah sie eine schwarze Gestalt, die auf der Trommel einen eigenartigen Takt schlug. Oben am Tisch sass eine angsteinflössende Person. Ein Mensch mit einem riesigen Hirschgeweih. «Ich bin der Hirsch vom Hirschberg», hörte man ihn rufen. Darauf begann der Hirschmensch auf einer Flöte zu spielen. Eine Melodie, so schön, wie Agatha sie noch nie gehört hatte. Ihr ganzer Körper wurde darob ergriffen. Sie begann vor Wollust zu zittern. Eine Frau am Tisch stand auf. Begann nach der Melodie zu tanzen. Drehte sich im Kreis. Die Zöpfe lösten sich auf, das Haar flog im Wind. Die Frau tanzte in ihrem leichten Kleid über sanfte Wiesen hinweg. Es war, als schwebe sie über der Erde. Als fliege sie über den Kindlistein, die Dornesslen, über das Hellholz, über die Stadt Rheineck. Dann wurde der Tanz ruhig. Die Frau zog anmutige Kreise und machte eigenartige Zeichen mit den Händen. Als Agatha das Gesicht der Tänzerin erblickte, erschrak sie. Sie erkannte sich selber. In diesem Moment warf der Zeremonienmeister seinen Stab ins Feuer und Agatha sah, wie das Bild im Feuer des Zauberstabes verbrannte.

Agatha erwachte in den Armen von Engel Bänziger. Schweissgebadet lag sie da. Im fahlen Lichte des aufgegangenen Mondes. Sie war völlig hilflos, die Beine taten ihr weh. Was war mit ihr geschehen? Hatte sie geträumt, oder war das Erlebte die Wirklichkeit? Sie wusste es nicht. Das Johannisfeuer war niedergebrannt, die Glut lag schon unter der Asche. Die furchterregenden Masken huschten weg, über die Wiesen, den Wäldern zu. Die einen zum Hirschberg, die andern zum Alten Stein, andere wieder Richtung Laderen. In der Ferne hörte man das leise Bimmeln der Rollenglöcklein, bis auch ihre Töne immer schwächer wurden und in der Stille des Waldes untergingen.

Agatha und die Engel Bänziger aber zogen in Richtung Dorfnest. Agatha ging vieles durch den Kopf, als sie in dieser Nacht zurück zum Berg Raspla sah, der im fahlen Mondlicht so geheimnisvoll da stand. Und zum Mond, der sie mit seinem vollen Gesicht ansah, und schwieg. So, als wäre nichts geschehen. War sie im Himmel oder in der Hölle gewesen? War das, was mit ihr geschehen war, gut oder böse? Der Teufel sei der Freund des Tanzes wird gesagt, der Ursprung allen Unheils und Lasters. Agatha fühlte sich all dem hilflos ausgeliefert. Ihr schien, sie könne sich gegen die Verführung der Geister nicht wehren. Trotz den guten Vorsätzen und den vielen Hilferufen an den lieben Gott und seinen Sohn Jesus Christus.


Publiziert in: «Ich wäre überall und nirgends». Appenzeller Anthologie. Literarische Texte seit 1900. Herausgegeben von der Ausserrhodischen Kulturstiftung. Schwellbrunn: Appenzeller Verlag, 2016. S. 390–392.

Erstpublikation: Walter Züst: Die Dornesslerin. Roman. Herisau: Appenzeller Verlag, 1998. S. 121–125.