RICHTUNG UTOPIE

Letzte Woche hat mich ein Ich von hinten angegriffen, als ich kurz meinte, Karl Ove Knausgård vor mir zu haben, weil der Autor Karl Ove Knausgård in seinen Büchern über einen Protagonisten mit demselben Namen schreibt. Ein Gestirn, dieser Karl Ove, hätte mir Ingeborg Bachmann zugeflüstert. Ein Artist, dieses Ich, kam mir in den Sinn, und ich erinnerte mich an den aus den 1968er Jahren stammenden Film „Die Artisten in der Zirkuskuppel: ratlos“ von Alexander Kluge, ein Film über Zirkus und Utopie, Scheitern und Selbsterkundung – und auch über das Denken und Schreiben. Aus Erinnerungen daran ergab sich in der letzten Woche eine Art Protokoll. Voilà:

1 Sind wir alles Artisten, Schauspielerinnen, Clowns, Elefanten, die schwören, nichts zu vergessen und darum traurig bleiben im schwerfälligen Vorwärtstrotten? Wir können nicht vergessen, was wir einmal gewesen sind.

1a Man beginne mit einer Frage.

1b Und doch ist es manchmal besser, nicht ständig zu fragen, zu hinterfragen, zu zermahlen, sondern zu machen, zu tun, dabei besser zu werden, seine Disziplin laufend zu verbessern, zu erweitern, auszuklügeln, neu zu ertasten, zu erfassen. Die Fragen bleiben als Richtungsweiser, sie mahlen mir einen starken Kaffee und ich komme voran.

1c Die Erinnerung lässt aufblühen, sie bauscht auf, sie lässt mich schreiben. Mit ihr muss ich mich nicht immer identifizieren, aber ich hafte ihr an.

2 Ich suche meine Disziplin und finde sie nicht am Arbeitsplatz. Ich suche meine Disziplin und sie ist das Schreiben. Ich schreibe mich in eine Utopie hinein und bleibe hängen im Vergangenen. Die Utopie und die Vergangenheit stehen sich entgegen und umarmen sich doch laufend!

2a „Die Utopie werde immer besser, während wir auf sie warten“, lässt Alexander Kluge in seinem gescheiten Film sagen. Aber mein Schreiben wird beim Warten nicht besser. Oder selten.

2b Ich suche meine Disziplin und finde sie im Machen, im Tun, im Tippen, Kritzeln und Spazieren.

Man beginne mit einer Frage und verkopfe sich nicht auf die Antwort hin.

3 Ich dressiere. Dressiere den Körper, den Geist, meine Wunden; ich dressiere mein Schreiben, meinen Mund, meine Liebe, meine Liebesgewohnheiten; dressiere meine Mitmenschen, meine Gefühle, und meine Ungewohnheiten mache ich zu meinen Gewohnheiten. Ich dressiere meine Arbeit, meine Trauerarbeit, mein Haar. Ich dressiere das Huhn, das Fleisch, ich verzehre es, dressiere meine Verdauung, meine Ausscheidung, meinen Kaffeekonsum. Ich verrühre Öl und Essig zu einem Dressing, mein Schreiben ist eine Torte und ich dressiere sie, ich dressiere den Filz zu meinem Hut.

4 Ich verbessere mich, vergewissere mich, verabrede mich, vergesse mich und verfange mich in Gedankengängen, die ich verloren geglaubt habe. Ich habe die Zeit verbracht und würde gerne in die Utopie treten, würde mich gerne in ihr verlieren; ich würde sie gerne dressieren und auf meinem Kopf tragen. Sie wäre klarviolett, die Utopie, und hellgelb bestickt.

5 Der Gedanke an die Utopie ermöglicht es mir durchzuhalten. Der Gedanke an die Fiktion ermöglicht es mir durchzuhalten. Die Fragen tragen mich in Richtung der Utopie.

5a Durch Halten wird Wärme erzeugt.

5b Durch Stehen wird Haltung bewahrt.

5c Durchhalten ist Aushalten ist Durchstehen ist Annehmen ist Arbeiten ist Seinlassen ist Vergessen ist Wollen ist Wollen ist Wollen ist Durchbringen ist Durchdringen ist: seiner Utopie folgen. Sie verfolgen. Sich von ihr einholen lassen.