Der Selbstmörder, die Flucht und The Doors

Es gab einmal einen König, der jahrelang in der Ostschweiz herumhumpelte. Bei seinem ersten Versuch, sich das Leben zu nehmen, war er unter der Tobelbrücke durch das Dach des Mühlenhäuschens gekracht und mit gebrochenem Becken auf dem Estrich liegengeblieben. Unterhalb des rechten Ohrs hatte er ausserdem eine Narbe: Das war der Austritt der Kugel beim zweiten Selbsttötungsversuch. Wenn man Rechtshänder ist, sollte man eben die Waffe nicht mit der linken Hand bedienen. Der Blick des herumlaufenden Königs wurde leuchtend und unnahbar; sein dritter Selbstmordversuch lag darin, sich mit allerlei Substanzen zu Tode zu therapieren. Aber auch das würde er überleben, und genau deshalb war er König, ein König über sieben Leben, und die Leute staunten.

Darf ich das schreiben? Oder verhöhne ich damit die Not anderer Menschen?

Darf man über etwas schreiben, das nicht direkt mit dem eigenen Leben zu tun hat? Oder sollte man sich zurückhalten und die Welt vor Betroffenheitsliteratur verschonen? Und wie ist es bei Texten, die über ein persönliches Schicksal hinausgehen und gesellschaftliche Themen abbilden? Sind das nur didaktische Versuche oder doch die nötige Auseinandersetzung mit dem Zeitgeschehen?

Die aktuelle Ausgabe der Literaturzeitschrift entwürfe Nr. 81 läuft unter dem Thema Fluchten. Als die Ausgabe schon gedruckt vorlag, diskutierte ich mit einer anderen Autorin, ob man über Flüchtende schreiben darf. Ja, fanden wir, solange es aus dem eigenen Empfinden heraus kommt. Aber wir wurden uns auch der Gefahr des Abdriftens in den Kitsch oder in eine herablassende Haltung bewusst – oder wie es Elvis Costello einmal gegenüber dem züritipp ausdrückte: „Den Glauben, die aktuelle Weltlage in seinen Songs kommentieren zu müssen, halte ich für äusserst arrogant. Er setzt voraus, das man etwas wahnsinnig Originelles zum Zeitgeschehen beizusteuern hat, das nicht auf ein Gefühl der verzweifelten Unumgänglichkeit hinausläuft.“

Demnach gibt es angebrachte und nicht angebrachte Texte, und ich musste zugeben, dass meine Texte nach diesem Massstab zum Teil durchfallen würden. Aber ich finde: Gerade am Beispiel „Flucht und Migration“ können wir uns gar nicht mehr mit der Frage aufhalten, ob wir das Thema anfassen dürfen oder nicht. Alle von uns sind davon berührt worden, sei es durch die Medien, durch persönliche Begegnungen oder sogar durch die eigene Familiengeschichte, die sich ja häufig nicht an Landesgrenzen hält.

Was meinen Sie? Worüber darf man nicht schreiben? Gibt es ethische, literarische, weltanschauliche Antworten darauf? Ich würde mich über Ihre Stellungnahme freuen. (Dazu bitte den nächsten Abschnitt überscrollen und die „kommentieren“-Funktion benützen.)

Jetzt möchte ich noch erwähnen, wie unser Deutschlehrer in der Mittelschule uns Kleist näherbrachte. Es seien zwar anders gewählte Worte aus einer anderen Zeit, sagte er, aber die zugrunde liegende Spannung und Zerrissenheit sei die gleiche wie bei Songtexten von The Doors.

Da verstanden wir.

– Eva Roth