Urnäsch-Zürich-Wladiwostok und zurück

Es gibt im Literaturland nicht nur Könige, sondern auch Prinzessinnen. Eine davon ist Leni, die in einer schönen Schlosserei an der Urnäsch lebt. Leni spricht nicht viel. Dafür kann sie schweissen und löten, und Akkordeon spielen auch. Aber nach der neunten Klasse weiss sie nicht so recht und will nicht so recht. Also arbeitet sie zu Hause in der Schlosserei mit, bis sie eines Tages weg ist, und das Akkordeon auch. Ein Jahr vergeht, da bringt der Pöstler eine Karte mit der Abbildung eines Hafenkrans. Darauf steht: Bin in Wladiwostok. Leni.

In der heimatlichen Schlosserei sind alle glücklich, dass Leni lebt. Wenige Wochen später steht das Akkordeon wieder in der Werkstatt, und Leni auch. Sie packt wieder an wie vorher, und wenn man sie fragt, ob sie wirklich in Wladiwostok gewesen sei, lächelt sie nur.

Schön wäre es, wenn Leni ein bisschen mehr auf die Karte geschrieben hätte. Wer mir ihre Geschichte erzählen kann, dem spendiere ich einen Flauder oder ein Quöllfrisch am Limmatquai in Zürich. (Dort stand auch einmal ein Hafenkran und verschwand wieder; ein Echo von der Nordsee, das an der Limmat umgedreht und sich auf den Rückweg gemacht hat?)

Weil das in seinen Grundzügen bereits eine Ausschreibung ist – man erzählt eine Geschichte und erhält dafür ein Getränk – liegen die Gedanken zum Thema Wettbewerb nahe. Literaturwettbewerbe sind eine prima Sache für die Organisatoren, weil sie neue Stimmen aufspüren. Für Schreibende können sie Anlass sein, mit einem Text einen ersten Schritt nach aussen zu machen. Wenn sie dabei den Wettbewerb und seinen Ausgang zunächst vergessen und die Aufgabe als Schreibanlass nehmen können, ist schon viel gewonnen. Ich habe oft die Internetseiten mit den Ausschreibungen abgeklappert – Literaturport, Uschtrin und so weiter – und herausgepickt, was mich angesprochen hat; denn ich war zuweilen zu nebenbeschäftigt und verzettelt, mir selbst eine Aufgabe zu stellen und empfand die thematische oder formelle Einschränkung als hilfreich. Manchmal sind dabei Texte fertig geworden, manchmal habe ich sie eingereicht, manchmal ist auch ein Echo gekommen, und das war dann besonders toll.

Echo auf Geschriebenes beflügelt. Niederschwelliger und oft vielstimmiger als von einer anonymen Jury bekommt man es im Austausch mit anderen Schreibenden. Schreibzirkel oder Textwerkstätten sind geschützte Rahmen, innerhalb dieser auch Experimente gewagt werden können – und die erfahrungsgemäss auch das eigene Leseverhalten und -vergnügen steigern.

Hinausgehen, verschwinden, zurückkommen: Der Prinzessin Leni muss man über Echos nichts erzählen. Sie ist schon als Schulkind die Hänge hinauf gestiegen, hat tief Luft geholt und HOOOOOOOOO ooooo oooo über das Tal gerufen.

– Eva Roth