An die Jugend

Was macht eigentlich die Jugend im Literaturland? – Sie fährt mit dem Moped herum und sehnt sich nach Liebe. Oder sie fährt auf dem iPad herum und sehnt sich nach Liebe. Und ein Teil der Jugend liegt bestimmt auf dem Bett, fährt mit dem Stift auf einem Papier herum und sehnt sich nach Liebe. Die Sehnsucht nach Liebe ist Normalzustand. Schreiben ist Arbeit am Normalzustand. Das Beschreiben der Welt ist Reflexion, ist der Versuch, sich selbst und das Rundherum zu verstehen, sich selbst verschieden zu denken, vielleicht auch anders als nur eine sich nach Liebe sehnende Kreatur – das geht heute auch ohne Musenalp Express.

Liebe Jugend des Literaturlands, ich verrate dir ein Geheimnis: Die Welt des geschriebenen Wortes ist begierig auf deine Ansichten. Deine Stimme soll authentisch sein. Bring das, was dich beschäftigt, in neue Formen, finde deinen Ton, wage das sprachlich Radikale. Du darfst das! Genauso wie die Senioren, die Kompromisse nicht mehr nötig haben. Zeig deine Kraft, Jugend, und versuche nicht zu gefallen. Wir wollen deinen Puls fühlen. Brich mit alten Formen, zeig uns Neuräume, es muss nicht mal immer Rebellion aus ihnen sprechen. Zeig uns deine Träume. Es ist auch egal, wenn es nur um dich geht, denn wir wollen wissen, wie es um dich steht. Schreib aus dir heraus und verschone uns mit oberflächlicher Selbstdarstellung. Wir wollen wissen, wo es wirklich wehtut und wo dein Glück liegt. Du darfst dabei auch lügen.

Ich weiss, dass ich mit diesen Ratschlägen wie meine eigene Grossmutter klinge – dabei bin ich weder jung noch alt, vielmehr so zwischendrin. Wenn Literaturförderinstrumente Altersgrenzen haben, liegen diese in der Regel mehr oder weniger unter meinem Alter, aber auf ein Ü70-Format müsste ich auch noch fast dreissig Jahre lang warten. – Das ist gut. So viel Zeit vor mir und keine Verpflichtung zu einer Altersschublade. Hinter mir liegt ungleich weniger Schreibzeit: Ich habe aus verschiedenen Gründen erst Texte herzuzeigen begonnen, als ich keine „junge Autorin“ mehr war; die Grenze liegt bei etwa 35 Jahren. Deshalb – und wenn ich mir schon herausnehme, der Jugend Tipps zu geben – muss ich mir auch die Frage stellen, wie denn die „etwas Älteren“ schreiben. Kann es uns in der langen Phase zwischen Jung und Alt passieren, uns plötzlich ins wohltemperierte Abseits zu schreiben, das Schöne und Wahre suchend, eingefärbt von dem, was wir gelesen haben, was ein eingebildeter Leser meinen könnte oder was unserer Vorstellung von altersgemässem Geistreichtum entspricht? Dass zu viel (Ehr)furcht vor schriftlichen Absonderungen aufgebaut wird, welche uns dann noch während mehrerer Jahrzehnte um die Ohren gehauen werden könnten? Das Ergebnis dieser Angst wäre wohl etwas langweilig. Wir Altjungen und Jungalten suchen diese Generationensprache nicht, aber es gibt auch bei uns das Gefühl der Verlorenheit zwischen Jugend und Tod. Und dieses hat einer so packend eingefangen, dass ich an dieser Stelle eine Leseempfehlung abgeben möchte (kein Geheimtipp mehr, aus gutem Grund): Wolfgang Herrndorf, der 2013 achtundvierzigjährig – also altjung – gestorben ist. „Es fällt schwer, Herrndorfs späte Bücher zu lesen, ohne in jedem Satz das Memento Mori lautstark herauszuhören“, schreibt Tobias Rüther im Nachwort der Gesamtausgabe (rowohlt 2015). Also eine Sprache, die sich erst angesichts des nahenden Todes ausgeformt hat? Nein, schreibt Rüther: „(…) Doch in Wahrheit leben auch schon seine ersten literarischen Texte von dieser Vergangenheitsfixierung, die eigentlich eine Vergänglichkeitsfixierung ist. Sie leben vom Verlustgefühl und dieser rotzigen Kraft, die daraus entstehen kann“. Wir Mittelalten dürfen also einiges wagen, auch wenn uns ein langes Leben beschieden sein sollte.

Falls Sie Ferien haben, beginnen Sie am besten mit „Tschick“, Herrndorfs Roman über zwei Vierzehnjährige, die mit einem geklauten Lada in Ostdeutschland herumfahren. Danach können Sie sich durch seine anderen fünf Bücher arbeiten, die ebenso lesenswert sind: niemals lau und oft entlang eines immer nachvollziehbaren Wahnsinns.

Und dir, Jugend, die du vielversprechend bist (und das nicht nur aus Verlegersicht), wünsche ich Glück.

– Eva Roth