Bilderbuchkinder

„Ich lasse jede Nacht den Esel raus, und keiner merkt es“, erzählte mir unlängst ein Fünfjähriger. Fünfjährige wirken manchmal etwas neben der Spur, finden aber oft poetische Wege, einem etwas mitzuteilen. Das ist gut für alle, die sich schon mit dem Gedanken getragen haben, einen Bilderbuchtext zu schreiben: Es hilft, die ganze Bibliothek im Kopf und jegliche Moralansprüche zu vergessen und einem Fünfjährigen beim Berichten zuzuhören – und schon liegen vor einem die Keime für noch nie dagewesene Geschichten. Sie zu sammeln, zu verwerten und in eine Form zu bringen, die sich zur Inszenierung durch Illustration eignet, ist dann die Aufgabe der Schreibenden.

Ich arbeite in einem Bilderbuchverlag; an meinem Arbeitsplatz stapeln sich Bilderbuchmanuskripte. Da finden sich manchmal wahre Schätze, vieles wiederholt sich aber hartnäckig: zum Beispiel die einsame Figur, die sich einen Freund wünscht und ihn am Ende auch bekommt. (Weil sich ein schreibender Erwachsener das so sehr wünscht). Oder die Saga vom andersfarbigen Schaf, das am Ende so angenommen wird, wie es ist. Auch das wünschen wir uns alle – aber viele Fünfjährige wollen sich diese Geschichte nicht immer wieder anhören. Als Gedankenexperiment hierzu stelle man sich eine noch erwachsenere Instanz vor, als wir es sind. Diese würde mit einer bestimmten Absicht eine Geschichte für uns schreiben. Welches Thema würde sie wählen? Bestimmt die Migration. Die Terroranschläge, die Zersetzung unseres Denkens durch Angst. Es gäbe viele geeignete Geschichten für uns, für die wir noch keine Worte haben. Aber würde uns diese literarische Bevormundung gefallen?

Ein Rezept für gute Bilderbuchgeschichten gibt es nicht – sonst gäbe es ja keine Überraschungen mehr – aber ich notiere mal ein paar Gedanken, die ich mir beim Prüfen der Manuskripte mache:

  • ist die Geschichte überraschend, und möchte man diese Überraschung immer wieder erleben? (Lieblingsbilderbücher werden hundertmal angeschaut und erzählt).
  • steckt in der Geschichte eine Absicht, die jeder Fünfjährige gleich entdeckt, oder kommt sie aus der Weltwahrnehmung eines Kindes? Beziehungsweise: Ist die Geschichte ein didaktisches Vehikel, oder hat da jemand gut hingehört, was Kinder bewegt?
  • Bilderbücher müssen nicht immer schön und lieb sein: Kinder sind anspruchsvoll und lassen sich gerne mal irritieren. Die Irritation hakt sich in ihren Köpfen fest, lässt Fragen und Faszination zurück.
  • Trotz Irritation: Die Welt ist grundsätzlich gut.
  • Kinder lachen gerne. Erwachsene auch.

Natürlich gefällt nicht allen das Gleiche. Und jede Geschichte, die erzählt oder geschrieben wird, ist eine Bereicherung für einen kleineren oder grösseren Kreis von Menschen. Das habe ich vor Augen, wenn ich die vielen formellen Absagebriefe verschicke und damit die Hoffnung auf Veröffentlichung – zumindest in unserem Verlag – zerstören muss. Und zu guter Letzt kann sogar die Schaf-Geschichte funktionieren, wenn sie nicht von Anfang an durchschaubar ist.

Der Fünfjährige, nachdem er mir beschrieben hatte, wie er jeden Abend wartet, bis es ruhig wird in der Wohnung, und wie er dann hinausschleicht, den eingesperrten Esel begrüsst und mit ihm einen Spaziergang durch den nächtlichen Park macht, fügte an: „Deshalb kann ich nicht so gut schlafen.“

Aha.

-Eva Roth