Schöne Grüsse aus dem sonnigen Süden

Wenn ich das Titelbild der Literaturland-Seite betrachte, den fast schwebenden Gaden auf der Weide, die Bäume, die sich an der Grenze zur Unwirklichkeit auflösen, dieser blaue Filter über allem – dann sehe ich ein altbekanntes Bild ganz neu.

Als Kind bastelte ich Sonnenbrillen aus Sichtmäppchen. Die Welt plötzlich ganz in Rosa, in Gelb oder Grün, der Wald, der in den Hintergrund trat, und die Strasse als rotes Band, das sich den Hügel hinauf zog: eine Offenbarung. (Und eine Erkenntnis, die ich damals keineswegs formuliert habe: Der Filter schafft einen neuen Blick, aber auch Distanz, definiert die innere Position der Betrachtenden, gibt die Möglichkeit einer neuen Annäherung durch Verfremdung.)

Wenn ich heute durch das Borgo Vecchio von Palermo spaziere, unter bepflanzten Balkonen den Hundehaufen ausweichend, zwischen den Herren vor der Autowerkstatt und dem Gemüseladen durch, dessen Auslage sich auch am Morgen auf zwei Zwiebeln beschränkt, während daneben das Geschäft unter einem Sonnenschirm üppig floriert, wenn ich über die Pfützen springe, die sich von tropfenden Klimaanlagen gebildet haben, und in Gassen blicke, in denen ein Gespräch über mehrere Stockwerke von Balkon zu Balkon fliegt – dann habe ich wohl meine Sizilienbrille auf. Noch schärfer sehe ich damit in der Nacht. Gestern gingen wir auf dem Weg nach Hause an zwei Carabinieri vorbei, die einen jungen Mann verhafteten. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite hatten sich etwa zwanzig Männer versammelt, die das Geschehen betrachteten. Sie stützten sich auf ein Auto (das Auto des Verhafteten?), das am Rand der Kreuzung auf dem Fussgängerstreifen abgestellt war, oder sie hielten ihre Motorroller fest; keiner sprach, undurchsichtige Mienen, angespannte Ruhe. Bis wir im dritten Stock in unserer Unterkunft waren und beste Aussicht auf die Kreuzung hatten, waren die Carabinieri weg. (Hätten wir ein Kissen zur Hand gehabt, hätten wir es auf die Brüstung gelegt und uns darauf abgestützt, um noch bequemer und länger auf die Strasse schauen zu können – ist doch auch so eine italienische Erfindung?) Die Männer verstreuten sich in alle Richtungen, jeder schien noch etwas zu jedem zu sagen, als ob sie sich alle kennen würden, und innert kürzester Zeit war der Platz leer. Kein Grund zu feiern. Gegenüber bewegte sich der Vorhang eines Balkons. Der Getränkehändler schaute die Strasse hinauf und hinunter, und langsam drang der normale Verkehr wieder ein, wich dem Auto auf dem Fussgängerstreifen aus.

Wir wissen nichts, und niemand wird uns etwas sagen, nur unsere Gedanken wuchern. Denken Sie jetzt auch an Mafia? Obwohl auch in Herisau oder Niederteufen ab und zu Leute verhaftet werden und man dort nicht gleich ans organisierte Verbrechen denkt? Die Brille! Sie mischt alles unter unsere Wahrnehmung, was wir je über einen Ort gehört haben.

Ein Klischee teilt übrigens die sizilianische mit der appenzellischen Gesellschaft: die Verschwiegenheit, die aller Freundlichkeit zugrunde liegt. Damit wird ja sogar geworben. Wer sie antrifft, fühlt sich nur bestätigt – aber zum Glück steht es uns immerzu frei, den Filter zu wechseln.

– Eva Roth