Menschen. All die Figuren.

Königin ist sie nicht, die Alte mit dem herben Gesicht. Sie ist die böse Frau des Literaturlandes. Zweimal in der Woche tuckert sie ins Dorf zum Einkaufen, schräg auf dem Mofa sitzend, mit schräg verbissener Miene und rot geäderten Wangen.

Im Dorf kauft sie Salami und sonst noch einige Dinge. Brot, Bouillon, zwei Äpfel. Mehr braucht sie nicht, denn hinter dem Haus hat sie einen Garten, da wachsen ein paar Rüben und verwilderte Himbeeren.

Auf dem Nachhauseweg vom Einkauf, bevor sie abbiegt zu ihrem kleinen Hof, fährt sie ihr Mofa an den Strassenrand, parkiert unter der Tanne. Sie wickelt die Salamischeiben aus und schiebt sich eine nach der anderen in den Mund. Kaut, bis nichts mehr da ist. Dann steigt sie wieder auf und fährt nach Hause zum Jakob, der eigentlich ihr Bruder ist und nie eine Scheibe Salami bekommt. Alle wissen das, aber niemand kennt die Gründe dafür. Wofür will sie ihn bestrafen? Je böser die Frau, desto wilder die Geschichten. Als Jakob kürzlich operiert werden sollte, hätten sie ihn im Spital zuerst aufpäppeln müssen, erzählt man sich, Jakob sei so liebenswürdig und umgänglich, dass seine böse Schwester mit ihm machen könne, was sie wolle. Aber ganz genau weiss es wirklich niemand, denn Jakob lächelt und schweigt. Und wenn er von den Mitgliedern der Lesegesellschaft einen Nussgipfel und gleich darauf noch einen spendiert bekommt, strahlt er. (In die Lesegesellschaft lässt sie ihn gehen, weiss der Teufel warum, und niemand fragt nach).

Ich habe die böse Frau zum letzten Mal vor fast dreissig Jahren vorbeituckern sehen, und auch das Appenzellerland kenne ich vor allem aus meiner Kindheit und Jugend. Langsam gleicht sich meine Sicht darauf einer touristischen Aussensicht an, nicht ohne dass ich doch manchmal die Gelegenheit nutze, angenehm stolz zu sein auf eine appenzellische Einzigartigkeit, die ebenfalls von aussen attestiert wird.

Ich nähere mich an über Einzelbilder, über Erinnerungen, Menschen, Figuren.

Und ich lese von Künstlern, die sich in innovativen lokalen Netzwerken bewegen, die ihresgleichen suchen, mir werden Geschichten erzählt von Leuten, die ohne viel Aufhebens Offenheit gegenüber Fremdem zeigen; ich höre von Experimentierfreude in losen Vereinen, von Heimweh-Weltenbummlern und von Warmherzigkeit – und ich freue mich. Und ich suche die Bilder von früher und suche Bilder von heute und stelle fest, dass ich die Prinzen und Prinzessinnen, die böse Frau und alle anderen ungehobelten oder auf schrullige Art kultivierten Figuren mag, die aus meiner Erinnerung auftauchen und auf dem Humus des Literaturlandes kurz aufspriessen.

Trotzdem will ich weder Nostalgie aufbauen noch Klischees abarbeiten: Die Zeit steht nicht still, alles verändert sich, und der Kuhstall, der einst Jakob und seiner bösen Schwester gehörte, ist mittlerweile Tarnung für ein luxuriöses Badezimmer, der Gemüsegarten ein Carport.

– Eva Roth