Die Stadt, die sticht

In diesem Blog lesen Sie in den kommenden Monaten ausgewählte Hinweise auf Texte, Autorinnen und Autoren, die in der Appenzeller Anthologie zu finden sind. Das Buch ist erschienen, es findet gute Resonanz, es soll aber darüber hinaus auch ein Instrument der Auseinandersetzung mit dem literarischen Appenzellerland sein und zu weiteren Leseabenteuern inspirieren.

Neue Leseabenteuer… da passt es gut, einen Text vorzustellen, der nicht in der Anthologie steht. Auch wenn das Buch mehrere hundert Texte von fast 200 Autorinnen und Autoren enthält: Es ist zwangsläufig lückenhaft. Die Herausgeber haben zum Teil Texte nicht berücksichtigt – sind zum Teil aber auch erst im Nachhinein auf Dinge aufmerksam geworden, dank «Vermisstmeldungen»  von Leserinnen und Lesern. Eine solche Vermisstmeldung ist dieser Text:

Für St.Gallen & Umgebung

Von dort aus gehend
und von der Nacht,
gelange ich in 5 Stunden
an den äussersten Rand
meines Bettes.
Habe die Stadt im Rücken
die sticht.
Ich fahre wieder mitten
in sie hinein,
und verliere mich dort.
Zentrum – wo bist du?
Öffentliche Pissoirs,
die wenigen, die übriggeblieben,
und das Restaurant Saturn,
mittags um 12 Uhr 15.
Meine ausgewählten Kleider
trage ich unsicher
durch die Fussgängerzone.
Hinter mir scheint sich
die Stadt zu beeilen
mich zu vergessen.
Ich kann ihr keine Ode schreiben.
Höchstens dann und wann
einen Zigarettenstummel
auf ihre fleckigen Strassen werfen.
In meinen Taschen
nach Haschischkrümeln suchen.
Zum Verschenken.
Vielleicht sollte ich einmal
eine Fahrkarte lösen.
Einfach
Und von ihr weg.
Aber es gibt Briefkästen,
in denen würde ich sie suchen,
ich weiss.
Ich gehe ihr auf den Leim,
warum auch nicht.
HK

Das Gedicht findet sich in der ersten Nummer eines Magazins, das 1977 bis 1980 in vier Ausgaben erschienen ist unter dem Titel «Steinschleuder», «Seinschleuder», «Scheinschleuder» bzw. «Schreischleuder». Einer der Initianten war der Steinbildhauer Wolfgang Steiger, der damals in Wald AR lebte und heute in Schwellbrunn wohnhaft ist, mit Atelier in Flawil. Autor des Gedichts ist der St.Galler Hugo Keller, der zu jener Zeit im Hebrig in Gais wohnte und ebenfalls zum Kreis der Herausgeber gehörte.

Deren Absicht war, wie der Name des Magazins andeutet, rebellisch. «Auf die Frage nach dem Anliegen dieser Zeitung», so steht es im Editorial zur ersten Ausgabe, «könnte man z.B. sagen: Aufzeigen und Aufmerksammachen auf Perspektiven, die uns die lokale Kulturszene vergegenwärtigen soll, um so die Möglichkeit für echte, dem Individuum angepasste Standpunkte zu schaffen. Oder: Vermehrte Menschlichkeit und Sensibilität, unabhängig vom offiziellen Kulturbrei.» Im selben Magazin findet sich ein «Interview mit zwei Repräsentatnen der lokalen Kunstszene», Hans Schweizer und Georges Dulk. Ihnen stellt der Interviewer unter anderem die Frage: «Welche Möglichkeit gäbe es Ihrer Meinung nach, das kulturelle Niveau der Ostschweiz zu heben?» Hans Schweizer plädiert dafür, «zu verhindern, dass die Künstler abwandern aus der Ostschweiz», und Georges Dulk nimmt die «potenten wirtschaftlichen Unternehmen» in die Pflicht, Mittel für kulturelle Zwecke einzusetzen – aber auch die Kantone sollen «wesentlich mehr Mittel für die Kultur der Gegenwart einsetzen». Das Anliegen war damals dringlich – unter anderem war das Kunstmuseum St.Gallen wegen Baufälligkeit geschlossen, die Kulturförderung verstand sich noch weitgehend als Kulturverhinderungsbehörde, soweit es nicht um (gut)bürgerliche Kultur ging. Die Kunsthalle St.Gallen, die Grabenhalle und andere damals «alternativ» genannte Institutionen waren erst am Entstehen.

Die «Schleuder» brachte Kunst, Fotocollagen, Comics, literarische Beiträge, sie mischte sich in die Stadtpolitik ein und endete mit Ausgabe Nummer vier als «Schreischleuder», jetzt verantwortet vom Künstler H.R. Fricker und mit dem Ziel, einem vom St.Galler Gewerbe ausgeschriebenen Fotowettbewerb und dessen «Schöne-heile-Welt-Bild» eine kritische Gegenoptik entgegenzusetzen: «Fotografiere, was dich bedrückt!!» lautete der Aufruf zu einer «Bilderflut»-Woche.

Von einem Postfach in Wald AR und von den Steinleuten im Bühler, dann von der Hüttschwendi Trogen aus gingen kulturpolitische Proteste aus, die innert weniger Jahre den kulturellen «Holzboden» St.Gallen aufwühlen und befruchten sollten. Die Geschichte dieser «künstlerischen Umtriebe auf dem Lande», wie sich Frickers Büro in Trogen nannte, müsste einmal umfassend nacherzählt werden. In der Anthologie gibt es Reflexe davon – frühe Landschaftseingriffe von HR Fricker selber, kritische «Highmatt»-Texte von Steff Signer oder Ida Nigglis liebenswürdig-giftige Teufner Erinnerungen an ihren Grossvater, den Schwaane Choret.

Peter Surber