Von Teufen nach Kairo

Die Appenzeller Anthologie ist auf Tour – am Mittwoch heisst die Station Bibliothek Teufen. Ein fantastischer Bücherort: Rund 18’000 Medien sind dort zu finden, rund 90’000 Ausleihen jährlich werden getätigt, 20 Stunden in der Woche ist die Bibliothek offen, und im Schnitt zählt man 30 Besucherinnen und Besucher pro Stunde im modern eingerichteten Bibliotheksraum im ehemaligen „Alten Bahnhof“ von Teufen (wo sich früher auch das Grubenmann-Museum befand). Alle Schulklassen der Gemeinde nutzen das Angebot, und mit dem vom Bund geförderten Programm Buchstart werden bereits Kinder im Windelalter mit Geschichten versorgt. Man merke zwar die digitale Konkurrenz, aber noch nicht bei den Schulkindern, sagt Bibliotheksleiterin Karin Sutter. Kurzum: Das Buch ist weiterhin eine Erfolgsgeschichte, in Teufen wie anderswo.

Am Mittwoch gastiert die Appenzeller Anthologie in diesem lebhaft pulsierenden Ort des Buchs. Als Gäste begrüssen die Herausgeber die Autorinnen Lisa Tralci und Julia Sutter.

Lisa Tralci, wohnhaft in Teufen und Bern, ist im Buch mit zwei Beispielen (hier und hier) aus Gegenrede vertreten, ihrer viel beachteten Sammlung mit Lyrik und Kurzprosa von 1998. Ausserdem findet sich ein Auszug aus ihrem zusammen mit dem Fotografen Marcel Grubenmann herausgebrachten Bild-Text-Band Silvesterchlausen. Wo das Jahr zweimal beginnt (1999), mehr dazu in diesem Blog im Beitrag vom 30. Dezember. Lisa Tralci wird teils auch neue Texte lesen.

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Julia Sutter, gebürtige Appenzellerin, ist mit einem der tagesaktuellsten Beiträge im Buch vertreten, mit Kool ganz nah, dem Porträt eines Autobahningenieurs. Sie liest in Teufen einen noch unveröffentlichten Text, einen Ausschnitt aus ihrem in Arbeit befindlichen Kairo-Roman. Hier ein  Vorgeschmack:

Erst in einem Stadtteil weit weg vom Zentrum hielten sie an. Mhammad Said führte sie durch das Gedränge, schlug einen Bogen, wo Unrat den Gehsteig blockierte, zwang ein Auto zum Stehen. Merrit hoffte, Louise möge sich den Weg einprägen. Während sie noch über die möglichen Gefahren nachdachte, die von dem Mann ausgingen, den sie ja genau genommen kaum kannten, packte der Alte Louise grob an der Schulter. „Ya Salam!“, rief er entsetzt, „was fällt dir ein!“ – „Lass mich“, rief Louise scharf auf Arabisch, drehte sich unter seinem Griff weg und starrte ihn wütend an. Er gab etwas Unverständliches zurück und dirigierte sie beide zur Hauswand, wo er Atem holte. Ob sie denn gleich heute sterben wolle, sprach er leise auf sie ein. Was Louise sich dabei denke, auf den morschen Kanaldeckel zu treten? Er zeigte auf einen Quadratmeter rostiges Blech. Solche Flicken durchsetzten auch die Gehsteige in Dokki und in der Innenstadt. Sie schepperten leise, wenn man darüberging, und ihre glatte Fläche war eine willkommene Abwechslung zu den üblichen Hindernissen, den Schutthaufen aufgerissenen Pflasters, den sandgefüllten Kuhlen und Lawinen von Abfall in Hauseingängen. Louise stupste das Blech mit der Sandale an, Mhammad Said rief: „Jedes Jahr stürzen Menschen hinab und sterben!“ Louise blickte auf, noch immer eher neugierig als aufgewühlt. Man dürfe nicht gedankenlos durch diese Stadt gehen, fuhr Mhammad fort, jetzt nicht mehr laut, sondern voller Kummer; ein Wunder, dass seinen Mädchen noch nichts passiert sei. Merrit fühlte den schnellen Puls im Hals. Das Blech war wirklich nur millimeterdünn, soviel sah sie nun, und am Rand löchrig wie ein schlecht ausgerollter Teig. Als sie wenige Minuten später den Fahrstuhl zur Wohnung von Mhammad Saids Freund betraten, waren Merrits Gedanken noch immer bei der Kanalisation. Diese Stadt war voller Fallen. Mit den Kanaldeckeln verhielt es sich wie mit den dunklen, kreisförmigen Stellen auf dem sandigen Gehweg, die sie immer erst bemerkte, wenn es bereits zu spät war. Die Flecken zeigten an, wo Kondenswasser von einer hoch über der Strasse befestigten Klimaanlage herabtropfte. Davor hatte Louise Merrit gleich am ersten Tag gewarnt, wenn man nicht ständig aufpasse, könne es einen sehr gemein im Nacken treffen.

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Von Julia Sutter gibt es seit kurzem auch einen Blog: Wegwart. Notizen zum schönen Leben in der Schweizer Wildnis. Es schreiben Knorz (aka Simon Deckert) und Lupine. Jüngster Eintrag: ein Rezept für Hagebuttenmark.

Peter Surber

Die Anthologie in Teufen: Mittwoch, 8. Februar, 19 Uhr, mit Lisa Tralci, Julia Sutter und den Herausgebern Doris Ueberschlag, Rainer Stöckli und Peter Surber. Mehr Infos hier.