Heraus aus dem Mundart-Ghetto

In der Appenzeller Anthologie gibt es eine grosse Zahl  von Mundarttexten. Es gibt ein ganzes Kapitel, das sich unter dem Stichwort «Sprachen und Zungen» mit dialektalen, aber auch anderen herausragenden Sprechweisen beschäftigt. Eingeleitet wird das Kapitel mit einer Liste von Begriffen, die «Qualitäten der Milch und Arten, Käse zu bereiten» umschreiben.

chächi Milch
chüewaa’mi Milch
e’stickt resp. veschtäckti Milch
gfangni Milch

…und so weiter, man kann da vieles über die Milch lernen und sich begeistern an der Differenzierungskraft der Mundart.

Im Buch gibt es aber auch Dialekt-Fremdlinge. Der wohl auffälligste ist der kurze Text Dr Dunant von Beat Sterchi. Sterchi schreibt in breitem Berner Dialekt sein gewitztes Kurzporträt des Rot-Kreuz-Gründers; am besten liest man es laut, dann kommt man den so vertrackten wie präzisen Schreibungen auf die Spur.

Beat Sterchi, 1983 mit dem Kuh-Roman Blösch bekanntgeworden, hat sein bisher letztes Buch 2016 dem konfliktreichen Verhältnis von Hochdeutsch und Dialekt in der Schweiz gewidmet. Die Mundart friste ein «Drückebergerdasein», sie gelte als minderwertig gegenüber der Hochsprache, dabei müsste sie gleichberechtigt neben dieser stehen, auch in offiziellen Sprech-Situationen. «Die Persönlichkeit schmilzt bei gewissen Leuten wie ein Schneemann an der Sonne, wenn sie Hochsprache sprechen», sagt Sterchi und plädiert dafür, den Dialekt aus seinem Minderwertigkeit-Ghetto zu befreien.

Er  regt sogar an, dass die Zweisprachigkeit (Mundart als erste Sprache, Hochdeutsch als Zweitsprache) in der Bundesverfassung verankert werde. In einem Interview im Bund sagte er dazu: «Unsere Sprache existiert offiziell nicht. Das ist dem Selbstbewusstsein nicht förderlich. Mit einer Erwähnung in der Bundesverfassung würde die Einschätzung meiner Sprachkompetenz aufgewertet werden. Ich liebe die deutsche Sprache, aber ich liebe auch mein Berndeutsch, weil ich weiss, dass das meine eigentliche Sprache ist.»

Mut zur Mündigkeit betitelt der Autor sein Plädoyer für ein selbstbewussteren Gebrauch der Muttersprache. Allerdings sei zumindest in der Literatur der Status des Dialekts entscheidend besser geworden in den letzten Jahren, räumt Sterchi ein: «Es ist unübersehbar, dass die hiesige Textproduktion aus ihrer sprachpolitischen Erstarrung erwacht ist. Die Trennung zwischen Mundart und Standardsprache wird immer öfter gelöchert und durchbrochen. Es braucht eben Modelle und Vorbilder. Die Erfolge von Pedro Lenz oder Guy Krneta haben das Mundartghetto gesprengt und führen dazu, dass auch andere Autorinnen und Autoren versuchen, in ihrer Muttersprache zu schreiben.»

Über Sterchis streitbare Position liesse sich diskutieren. Sicher ist: Sterchis Dunant-Text (in der Anthologie der Auftakt zum migrationsfreudigen Kapitel «Ankommen, abhauen, fremdgehen») ist ein starkes Stück Dialekt. In Heiden ist es live zu hören, gesprochen von einem Berner «native speaker», vom Schauspieler Thomas Fuhrer. Daneben liest die in Heiden lebende Lyrikerin Bozena Frei. Rainer Stöckli und Doris Überschlag führen durch das Programm und durch die Anthologie.

Peter Surber

Ich wäre überall und nirgends. Präsentation der Appenzeller Anthologie: Dienstag, 21. Februar, 19 Uhr, Bibliothek Heiden