Wider das Vergessen

Es gibt in der Appenzeller Anthologie einen Text, über den ich dieser Tage viel nachdenke. Das Buch, dem der Text entnommen ist, trägt den Titel Fast ein Appenzeller. Der Autor Otto Ascher beschreibt darin seine Zeit als Flüchtling in der Schweiz zwischen 1938 und 1945. Knapp 14-jährig war der jüdische Knabe aus Wien, als es ihm zusammen mit seiner Mutter und dem kleinen Bruder am 25. Dezember 1938 beim zweiten Versuch gelang, den Alten Rhein zu durchwaten und im Flüchtlingslager Diepoldsau vorübergehend Aufnahme zu finden. Der Vater hatte Österreichs Hauptstadt im November verlassen – nach der Reichskristallnacht. Seit dem «Anschluss» Österreichs an das Deutsche Reich im März 1938 waren Tausende Juden und Oppositionelle geflohen. Otto Ascher schreibt über diese Zeit: «Die blanke Willkür herrscht. Es wird offiziell geduldet, dass geplündert, gestohlen, schikaniert, geprügelt und ‹arisiert› wird.»

Die Familie hatte Glück. «Soviel ich weiss, waren wir die vorletzte Gruppe, die [vom wenig später abgesetzten Polizei-]Hauptmann Grüninger gewissermassen aufgenommen worden ist», hält Ascher in seinem Bericht fest. In Wald-Schönengrund erhielt sie eine Bleibe: «Der Kanton St. Gallen nimmt Flüchtlinge auf […]. Der Kanton Appenzell nimmt keine Flüchtlinge auf.» Es waren aber weder die Kantone noch der Bund, sondern vor allem ausländische jüdische Hilfsorganisationen, die den Aufenthalt der Flüchtlinge in der Schweiz ermöglichten.

Bis Mai 1941 lebte Otto Ascher in Wald-Schönengrund, bevor er in ein Arbeitslager ins Tessin kam und ein Jahr später in Oberuzwil eine Lehre als Schreiner absolvieren konnte. Zwischenzeitlich arbeitete er in Gams auf einer Alp. Im Herbst 1945 kehrte er nach Wien zurück.

Was mich bei der Lektüre von Aschers Bericht betroffen macht, ist zweierlei: Erstens beschäftigt es mich, dass ich das Flüchtlingslager in Wald-Schönengrund mit 150 bis 200 Emigrantinnen und Emigranten erst durch diesen Text kennengelernt habe. Ein weiteres «Appenzeller Lager» gab es auf der Schäflisegg bei Teufen; auch das wusste ich nicht. Einzig vom jüdischen Kinderheim Wartheim in Heiden hatte ich Kenntnis. Und von Unterkünften und Arbeitslagern für internierte Militärpersonen und Zivilflüchtlinge während des Kriegs. Höchste Zeit also, diesem Kapitel Appenzeller und Ostschweizer Geschichte Beachtung zu schenken.

Damit bin ich beim zweiten Punkt, der mir mit Blick auf aktuelle Ereignisse auf der Weltbühne nahe geht: Wie in den 1930er Jahren wird es wieder salonfähig, offen und hemmungslos zu hassen. «Die Drohbriefe, die es anonym schon immer gab, sind heute mit Namen und Adresse gezeichnet», schreibt die Philosophin Carolin Emcke zu diesem Thema und auf Deutschland bezogen. Und die Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor ergänzt: «Im Netz kocht die Wut hoch. Auf der Strasse stehen Unterkünfte in Brand.» Otto Ascher protokollierte solche Phänomene in Österreich als schleichende Entwicklung seit der Weltwirtschaftskrise bis hin zum Ausbruch der «blanken Willkür» im Jahre 1938. «Schleichend» ist ein wichtiges Stichwort … Auch die Ängste der Menschen in unserem unmittelbaren Umfeld sind nicht harmlos. Hass ist ernst zu nehmen. Als Gemeinschaft sind wir gefordert, ihm hartnäckig auf der Spur zu bleiben und ihm ebenso hartnäckig und entschieden entgegenzutreten.

Heidi Eisenhut, 1976, ist Historikerin und Leiterin der Kantonsbibliothek Appenzell Ausserrhoden.

Dieser Text erschien zuerst im Ostschweizer Kulturmagazin Saiten.