Urs Richle und die Anthologie am Wortlaut

Man beobachtete uns. Und nicht nur: Man beobachtete, wie man uns beobachtete.

Es ist eine einschneidende Erfahrung, die der junge Paul Zoll kurz nach seiner Ankunft machen muss, in jenem Dorf, das man unschwer als Gais erkennt. Kaum ist er hier, kennt man ihn, spricht ihn in der Bahn an, weiss, dass er in der Gärtnerei arbeitet, weiss, wo er wohnt. Das Dorf hat den Neuankömmling im Griff – und er weiss es selber auch, merkt es schon auf dem schmucken Dorfplatz:

Früher oder später wird jeden Besucher und jede Besucherin der Gedanke überfallen, dass diese Häuserfassade nicht bloss eine Fassade ist, diese Vorhänge nicht bloss Vorhänge, dass dahinter Zimmer existieren, Menschen leben, sich Augen verbergen könnten. Etwas erschreckt musste ich feststellen, zumal ich kein Tourist war, dass ich nicht wissen konnte, aus welchem Fenster diese Augen mich gerade erspähen würden. Es konnte jedes sein, es konnte auch keines sein. Je länger ich schliesslich an diesem Brunnen ausharrte und mich immer wieder um ihn herumbewegte, um nicht ständig dem möglichen Blick aus einem der Fenster ausgesetzt zu sein, um so mehr stellte ich fest, dass mir dieser Brunnen, so schön und friedlich er auch gestaltet sein mochte, keinen Schutz vor Beobachtern, keine Deckung vor den Einheimischen bot.

Die Passage stammt aus einem Buch, das 1992 erschienen ist und seinen Autor rasch bekannt gemacht hat. Es ist der Roman «Das Loch in der Decke der Stube», der Erstling von Urs Richle. Richle, 1965 im Toggenburg zur Welt  gekommen, wusste, wovon er schrieb: Er war 1989 als junger Primarlehrer nach Gais gekommen. Dann zog er nach Berlin, später nach Genf – kein Appenzeller Autor also im engeren Sinn, aber einer, der in die Appenzeller Anthologie fraglos hineingehört mit seiner intensiven und kriminalistisch spannenden Dorfstudie. Der ganze Roman-Ausschnitt, wie er in die Anthologie Aufnahme gefunden hat, ist hier zu lesen.

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Jetzt kommt Urs Richle in die Ostschweiz zurück für die Präsentation der Anthologie am Literaturfestival Wortlaut: am Sonntag 2. April im Raum für Literatur in St.Gallen. Er liest einerseits aus seinen Büchern – dem Erstling folgte eine Reihe weiterer Romane, zuletzt «Das taube Herz» (2010) sowie «Anaconda 2.0» (2016). Der Roman spielt im Umfeld der Cyberkriminalität und der Big-Data-Problematik, ein Thema, in dem sich Richle auskennt: Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit hat er in Lausanne Ingenieurwissenschaften studiert und arbeitet seit 2006 als Ingenieur in unterschiedlichen Forschungsprojekten der Universität Genf. Daneben unterrichtet er am Literaturinstitut in Biel. In Genf gilt sein Forschungsinteresse unter anderem der Programmierung von «interactive storytelling», das heisst von Texten, die an unterschiedliche Leser-Biographien adaptiert sind.

Richle ist also Fachmann genau für die Themen, die am Anthologie-Anlass vom Sonntag im Rahmen des Wortlaut Festivals neben der Lesung diskutiert  werden sollen: Wie ist das Verhältnis des gedruckten Buchs zur online publizierten Literaturplattform, jener beiden «Trägermedien», die die Appenzeller Anthologie exemplarisch «bespielt», indem sie alle im Buch wiedergegebenen Texte rollend auch online stellt? Und wer liest wie und wo warum?

Mit Urs Richle diskutieren drei Co-Herausgeber des Buchs, Heidi Eisenhut, Rainer Stöckli und Peter Surber, sowie die Wortlaut-Mitorganisatorin und Autorin Rebecca C. Schnyder. Sie hat ihrerseits vielfältige Erfahrungen mit unterschiedlichen Literatursparten: Roman, Theaterstück, Hörspiel, Lyrik sowie, auf dieser Seite, dem Blogger-Metier.

16 02 10 RebeccaC.Schnyder

Man wird Plädoyers fürs Buch und Plädoyers fürs Netz hören, man wird mehr über die Digitalisierungstendenzen in Bibliotheken und anderen Kulturgut-Archiven erfahren. Das Gespräch wird versuchen, die aktuelle Lage der Literatur im Übergang von der Gutenberg-Galaxie zum digitalen Universum zu erkunden. Und es wird um die Frage gehen, wie man sich als Autorin und Autor im virtuellen Zeitalter orientiert und inwiefern dies die Schreibstrategien verändert.

Ein anderer Text übrigens, der in dieser Hinsicht eine der experimentellsten Positionen einnimmt, stammt aus dem web-basierten «Wortwerk» des in Trogen lebenden Autors Matthias Kuhn. Ein Auszug daraus, der sich um die Frage der Rezyklierbarkeit von Literatur dreht, ist hier zu lesen.

Thematisiert werden aber auch das Sammeln und Neu-Ordnen von Texten, die Logik und der Sinn einer Anthologie und die Frage, wie sich eine literarische Landschaft wie das Appenzellerland begründen lässt.

Eine Erkenntnis der sonntäglichen Wortlaut-Veranstaltung kann man vermutlich vorwegnehmen: Am Ende geht es, aus welcher Region, in welchem Medium und unter welchen Schreibvoraussetzungen auch immer, um den guten, den packenden Text, der seine Hörerinnen, seine Leser oder Empfängerinnen in Bann schlägt.

Peter Surber

Die Appenzeller Anthologie am Wortlaut Festival. Lesung und Diskussion mit Urs Richle, Rebecca C. Schnyder, Heidi Eisenhut, Rainer Stöckli und Peter Surber.

Sonntag, 2. April, 13 Uhr, Raum für Literatur in der Hauptpost St.Gallen im Rahmen des Festivals Wortlaut